Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 IV 142



100 IV 142

36. Urteil des Kassationshofes vom 15. Juli 1974 i.S. Bretscher gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich. Regeste

    Art. 44 Ziff. 3 Abs. 2 StGB. Wo als "andere sichernde Massnahme" die
Einweisung in eine Anstalt im Sinne des Art. 43 StGB in Frage steht, hat
der Richter so zu verfahren, wie es Art. 43 Ziff. 1 Abs. 3 vorschreibt,
d.h. ein Gutachten einzuholen.

Sachverhalt

    A.- Max Bretscher wurde vom Obergericht des Kantons Zürich am
5. Oktober 1973 der wiederholten und fortgesetzten Entwendung eines
Motorfahrzeugs zum Gebrauch, des wiederholten und fortgesetzten Fahrens in
angetrunkenem Zustand, der Gewalt und Drohung gegen Beamte sowie weiterer
Straftaten schuldig erklärt und zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt. Das
Gericht schob den Vollzug der Strafe auf und wies Bretscher gemäss Art. 44
StGB in eine Trinkerheilanstalt ein.

    Am 3. April 1974 stellte die Justizdirektion des Kantons Zürich
den Vollzug der Massnahme ein, weil Bretscher wiederholt aus den
Trinkerheilanstalten entwichen sei und eine Entziehungskur nicht
durchzustehen vermöge. Sie ersuchte deshalb das Obergericht des Kantons
Zürich, im Sinne von Art. 44 Ziff. 3 Abs. 1 und 2 StGB zu entscheiden.

    Bretscher beantragte, den Entscheid über einen allfälligen Vollzug der
Strafe auszusetzen und ein psychiatrisches Gutachten über ihn einzuholen.

    B.- Am 6. Mai 1974 ordnete das Obergericht des Kantons Zürich den
Vollzug der von ihm am 5. Oktober 1973 ausgesprochenen Freiheitsstrafe an,
abzüglich Untersuchungshaft und Dauer des Massnahmevollzugs.

    C.- Bretscher führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag,
den Beschluss des Obergerichts aufzuheben und dieses anzuweisen,
vor Ausfällung eines neuen Entscheids über einen allfälligen Vollzug
der Strafe eine psychiatrische Begutachtung anzuordnen. Er ersucht um
Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.

    Die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich hat sich nicht vernehmen
lassen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Gemäss Art. 44 Ziff. 3 StGB entscheidet der Richter nach Einholung
eines Berichtes der Anstaltsleitung, ob und wieweit aufgeschobene Strafen
noch vollstreckt werden sollen, wenn sich zeigt, dass der Eingewiesene
nicht geheilt werden kann (Abs. 1). An Stelle des Strafvollzuges
kann der Richter eine andere sichernde Massnahme anordnen, wenn deren
Voraussetzungen erfüllt sind (Abs. 2).

    Mit der anlässlich der letzten Gesetzesrevision in Absatz 2
eingeführten Neuerung wollte der Gesetzgeber den sichernden Massnahmen
vor den Strafen den Vorzug geben, namentlich solchen heilenden oder
erzieherischen Charakters. Diese Massnahmen sind nämlich auf besondere
Fälle zugeschnitten, in denen von den Tätern nach ihrer Eigenart oder
ihren persönlichen Verhältnissen weitere Delikte zu befürchten sind.
Wird solchen Massnahmen vor den Strafen der Vorrang eingeräumt, so besteht
am ehesten Aussicht, diese Gefahr auszuschalten, während der Strafvollzug
hier kaum einen besonderen spezialpräventiven Erfolg verspricht (GERMANN,
Grundzüge der Partialrevision des schweizerischen StGB durch das Gesetz
vom 18. März 1971, in ZStR 1971, S. 356/357 und 378/379). Dem muss der
Richter Rechnung tragen beim Entscheid, ob gemäss Art. 44 Ziff. 3 StGB
die Strafe zu vollziehen oder eine andere sichernde Massnahme anzuordnen
sei. Sind die Voraussetzungen für eine solche erfüllt, wird der Richter
sie pflichtgemäss anordnen. Die Strafe ist nur zu vollziehen, wo die
Möglichkeit der Einwirkung auf den Täter durch eine Massnahme entfällt.

Erwägung 2

    2.- Es ist unbestritten, dass sich die von der Vorinstanz am
5. Oktober 1973 angeordnete Einweisung des Beschwerdeführers in eine
Trinkerheilanstalt (Art. 44 Ziff. 1 StGB) als nutzlos erwiesen hat
und dass deshalb die Vorinstanz nach Art. 44 Ziff. 3 StGB verfahren
musste. Sie hat sich dabei zutreffend die Frage gestellt, ob nicht statt
des Strafvollzugs eine sichernde Massnahme in Betracht falle. Dass die
Voraussetzungen für eine Verwahrung nach Art. 42 StGB nicht erfüllt sind,
hatte sie schon in ihrem sachrichterlichen Urteil vom 5. Oktober 1973
festgestellt. Sie beschränkte sich deshalb in ihrem neuen Entscheid auf
die Prüfung der Frage, ob Bretscher als geistig Abnormer einer Behandlung
im Sinne von Art. 43 bedürfe. Sie hat dies verneint unter Hinweis auf die
Feststellung des "beigezogenen Psychiaters Dr. Vossen", wonach Bretscher
keiner Behandlung in einer psychiatrischen Klinik bedürfe. Von einer
psychiatrischen Begutachtung sah sie ab. Hiegegen wendet sich die
Beschwerde.

Erwägung 3

    3.- Dem Beschwerdeführer ist darin beizupflichten, dass der Richter,
der gemäss Art. 44 Ziff. 3 Abs. 2 StGB prüft, ob eine andere sichernde
Massnahme anzuordnen sei, die Frage nur beantworten kann, wenn ihm die
Grundlagen zur Verfügung stehen, deren er bedürfte, wenn er als Sachrichter
bei der ersten Urteilsfällung abklären müsste, ob die Voraussetzungen jener
anderen Massnahme (Art. 42 und 43 StGB) erfüllt seien. Wo die Einweisung in
eine Anstalt im Sinne des Art. 43 StGB in Frage steht, hat er demnach so
zu verfahren, wie es Art. 43 Ziff. 1 Abs. 3 StGB vorschreibt. Nach dieser
Bestimmung "trifft" der Richter seinen Entscheid aufgrund von Gutachten
über den körperlichen und geistigen Zustand des Täters sowie über die
Verwahrungs-, Behandlungs- oder Pflegebedürftigkeit. Wie sich schon aus
dem Wortlaut ergibt, ist es nicht ins Ermessen des Richters gestellt,
ob er ein solches Gutachten einholen will oder nicht. Er ist vielmehr
dazu verpflichtet, sofern erhebliche Gründe die Prüfung der Anwendung
von Art. 43 Ziff. 1 StGB nahelegen. Das entspricht auch dem Sinn der
Vorschrift. Eine Einweisung in eine Anstalt für geistig Abnorme soll
wegen der Tragweite eines solchen Eingriffs nicht leichthin, sondern erst
angeordnet werden können, wenn der Richter aufgrund eines sachverständigen
Gutachtens in der Lage ist zu entscheiden, welche Massnahme und in welcher
Form sie am besten Erfolg verspricht. Aus diesem Grunde verlangt denn
auch das Gesetz, dass der Experte sich über den körperlichen und geistigen
Zustand des Täters sowie über die Art der Massnahme auszusprechen habe.

    Das Obergericht hat die Anwendung von Art. 43 Ziff. 1 StGB abgelehnt,
ohne ein Gutachten einzuholen. Wohl hat es sich auf einen Bericht
von Dr. Vossen berufen, wonach Bretscher keiner Behandlung in einer
psychiatrischen Klinik bedürfe. Dr. Vossen ist jedoch vom Obergericht
nicht zum Gutachter bestellt worden, und es spricht auch nichts dafür,
dass es der Meinung gewesen wäre, Dr. Vossen habe seinen Bericht als
Gutachten aufgefasst wissen wollen. Im Gegenteil hat dieser nach seinen
eigenen Angaben den Beschwerdeführer "in der Sprechstunde nur kurz
untersucht", seinen zweiseitigen Bericht auf diese Untersuchung und
eine "kurze Einsichtnahme" in die frühere Krankengeschichte gestützt
und ihn "vorbehaltlich einer allfälligen gutachtlichen Stellungnahme"
erstattet. Überdies spricht sich der Bericht über den körperlichen
Zustand des Beschwerdeführers überhaupt nicht aus und beschränkt sich,
was den psychischen Zustand betrifft, auf die Feststellung, Bretscher
bedürfe keiner Behandlung in einer psychiatrischen Klinik. Ein solcher
Bericht genügt den Anforderungen des Art. 43 Ziff. 1 Abs. 3 StGB nicht.
Nachdem das Obergericht sich veranlasst gesehen hatte, die Frage einer
Behandlung nach Art. 43 Ziff. 1 StGB zu prüfen, hätte es dem Antrag
auf Einholung eines Gutachtens stattgeben müssen. Dafür bestand umso
mehr Grund, als schon das Bezirksgericht Zürich in seinem Urteil vom
21. Juni 1973 zum Schluss gelangt war, der Angeklagte benötige eine
spezifisch auf seine Trunksucht ausgerichtete psychiatrische Betreuung,
und die Justizidirektion des Kantons Zürich in ihrem Schreiben vom
28. Juni 1973 an die Staatsanwaltschaft auf die Notwendigkeit einer
psychiatrischen Begutachtung des Beschwerdeführers hingewiesen hatte,
worauf die Staatsanwaltschaft gegen das bezirksgerichtliche Urteil
Berufung einlegte mit dem Antrag, es sei vor der Berufungsverhandlung
ein psychiatrisches Gut achten einzuholen.

Erwägung 4

    4.- Die Beschwerde ist daher gutzuheissen und die Sache an die
Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie den körperlichen und geistigen Zustand
des Beschwerdeführers durch einen Sachverständigen begtachten lasse,
wobei sich dieser auch darüber wird aussprechen müssen, ob und in welcher
Form eine andere Massnahme als diejenige des Art. 44 zweckmässig sei.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird gutgeheissen und die Sache zu neuer
Entscheidung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen.