Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 IV 133



100 IV 133

34. Urteil des Kassationshofes vom 16. Dezember 1974 i.S. Gemperle gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich Regeste

    Art. 41 Ziff. 1 Abs. 1 StGB. Bedingter Strafvollzug bei Fahren in
angetrunkenem Zustand. Bestätigung der Rechtsprechung.

Sachverhalt

    A.- Am 11. Juni 1973 um 16.45 Uhr führte Charles Gemperle seinen
Personenwagen in einem schweren Rausch (mindestens 2,4é) von Sünikon nach
Dielsdorf, wo er ein vor einer Lichtsignalanlage angehaltenes Fahrzeug
von hinten rammte. Nachdem er dem Geschädigten Namen und Adresse angegeben
hatte, machte er sich davon, als er bemerkte, dass jener die Polizei rufen
und ihn wegen seiner Angetrunkenheit am Wegfahren hindern wollte. Zuhause
angekommen, will er 1,5 dl Schnaps getrunken haben.

    B.- Das Bezirksgericht Dielsdorf verurteilte Gemperle wegen Fahrens
in angetrunkenem Zustand zu vier Wochen Gefängnis.

    Das Obergericht des Kantons Zürich bestätigte dieses Urteil am 23.
September 1974.

    C.- Gemperle führt Nichtigkeitsbeschwerde mit dem Antrag auf Gewährung
des bedingten Strafvollzugs.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Nach ständiger Rechtsprechung darf angetrunkenen
Motorfahrzeugführern der bedingte Strafvollzug nur mit grosser
Zurückhaltung gewährt werden. Wer sich über die allgemein bekannte Tatsache
hinwegsetzt, dass schon geringe Mengen Alkohol die Fahrtüchtigkeit
beeinträchtigen, obwohl er weiss, dass er sich nachher ans Steuer
setzen wird, bekundet in der Regel eine Gesinnung, die als hemmungs-
und rücksichtslos bezeichnet werden muss und auf einen Charakterfehler
hinweist. Deshalb sind an die Gewähr, die ein nach Art. 91 Abs. 1
SVG Verurteilter für künftiges Wohlverhalten bieten muss, selbst dann
hohe Anforderungen zu stellen, wenn sich der Täter zum ersten Mal wegen
Angetrunkenheit zu verantworten hat. Dabei ist im Rahmen der gesamten in
Betracht fallenden Umstände auch der Grad der Angetrunkenheit in Rechnung
zu stellen; je schwerer die Alkoholisierung, desto begründeter ist der
Vorwurf der rücksichtslosen Gesinnung und desto höher sind die an eine
günstige Prognose zu stellenden Anforderungen (BGE 100 IV 10).

Erwägung 2

    2.- Nach dem angefochtenen Urteil hat sich der Beschwerdeführer mit
mindestens 2,4é Alkohol im Blut, somit in einem schweren Rausch, zu einer
Vergnügungsfahrt ans Steuer seines Wagens gesetzt, nachdem er aus freiem
Entschluss im Übermass dem Alkohol zugesprochen hatte. Der damit für den
Kassationshof verbindlich festgestellte (Art. 277bis Abs. 1 BStP) hohe
Grad der Angetrunkenheit, der Vergnügungscharakter der Fahrt und das Fehlen
eines Trinkzwanges fallen bei Beurteilung der Bewährungsaussichten derart
belastend ins Gewicht, dass ganz besondere individuelle Verhältnisse oder
Umstände vorliegen müssten, um die durch jenes Verhalten zutage getretene
Hemmungs- und Rücksichtslosigkeit nicht als Ausdruck eines Charakterfehlers
erscheinen zu lassen. Solche Umstände liegen nicht vor.

    a) ...

    b) Ebensowenig schlägt der Einwand durch, die allgemeine Formulierung,
wonach die 2,4é auf eine Hemmungs- und Rücksichtslosigkeit und damit
auf einen ernsthaften Charakterfehler hinwiesen, könne nicht als richtig
anerkannt werden, weil es Alkoholgewohnte und solche gebe, die bereits von
einem Glas Wein angeheitert seien. Der Beschwerdeführer sei alkoholgewohnt
und alkoholtolerant. Er habe deshalb die Einsicht gehabt, einerseits
genug getrunken zu haben und anderseits noch fahrtüchtig zu sein.

    Trinkgewöhnung kann in gewissen Grenzen zu einer erhöhten
Alkoholverträglichkeit führen. Indessen ist wissenschaftlich erwiesen, dass
bei Alkoholwerten von 0,6 bis 0,8 Gewichtspromillen in jedem Fall fassbare
Leistungsverminderungen auftreten, weswegen gegenüber dem Grenzwert von
0,8é der Einwand höherer Alkoholverträglichkeit grundsätzlich versagt
(BGE 90 IV 166 f.). Darüber hilft auch die behauptete Einsicht, noch
fahrtüchtig zu sein, nicht hinweg. Es ist eine Erfahrungstatsache,
dass bei einem Menschen, der Alkohol getrunken hat, das subjektive
Leistungsgefühl im Gegensatz zur objektiven Leistungsfähigkeit gesteigert
ist. Das persönliche Empfinden des Führers ist deshalb trügerisch und
kein zuverlässiger Gradmesser für die Fahrtüchtigkeit.

    c) Der Beschwerdeführer macht geltend, es sei unter den Tatumständen
zu berücksichtigen, dass ein Angetrunkener, der infolge der Kollision
"möglicherweise" einen leichten Schock erlitten habe, anders reagiere als
jemand, der keinen Alkohol getrunken habe. Deshalb sei auch die Tatsache
des nachträglichen Alkoholkonsums unrichtig gewürdigt worden. Es fehle
an Anhaltspunkten dafür, dass er sich ein sogenanntes Cognac-Alibi habe
verschaffen wollen; er sei aufgeregt gewesen und habe deshalb einen
Schluck genommen.

    Der Einwand des Beschwerdeführers, er habe einen Schock erlitten,
verfängt schon deshalb nicht, weil es sich dabei um eine blosse Vermutung
handelt. Dass Gemperle sich ein Cognac-Alibi hat verschaffen wollen, hat
auch das Obergericht als nicht mit Sicherheit erwiesen betrachtet. Das
hinderte es aber nicht daran, in diesem Verhalten dennoch ein negatives
Indiz für die Zukunft zu sehen. Der Umstand, dass der Beschwerdeführer
nach dem Unfall sogleich wieder zur Flasche griff und dabei nicht nur,
wie er heute beschönigend behauptet, einen Schluck nahm, sondern ca. 1,5
dl Schnaps trank, bestätigt die von der Vorinstanz festgestellte Neigung
zu übermässigem Alkoholgenuss.

    d) Gemperle bestreitet weiter, bewusst übermässig Alkohol
getrunken zu haben: wäre dem so gewesen, so hätte er seinem Nachbarn
telephoniert, damit er ihn heimhole. Damit setzt er sich in Widerspruch
zur vorinstanzlichen Annahme, wonach der Beschwerdeführer aus völlig
freiem Entschluss übermässig Alkohol konsumiert hat. Da es sich hiebei
um eine tatsächliche Festellung handelt, wird sie vom Beschwerdeführer
unzulässigerweise angefochten (Art. 273 Abs. 1 lit. b BStP).

    Aus demselben Grund ist er auch nicht zu hören, soweit er es
unternimmt, die vorinstanzliche Würdigung der Leumundsberichte und seiner
Aussagen im Untersuchungsverfahren zu bemängeln und die vom Obergericht
festgestellten Trinkgewohnheiten als unbewiesen hinzustellen. Dem Einwand
aber, dass er heute angeblich abstinent lebt, ist die Vorinstanz mit
der Feststellung entgegengetreten, dass sich der Beschwerdeführer dazu
erst unter dem Einfluss des Strafverfahrens entschlossen hat. Dieser
Umstand muss zwar nicht notwendig einer Berücksichtigung jener Tatsache
zugunsten des Verurteilten entgegenstehen. Indessen müssten weitere
erhebliche Tatsachen für ihn sprechen, um bei einem Verhalten, wie es
der Beschwerdeführer an den Tag gelegt hat, eine günstige Prognose zu
rechtfertigen. Wer wie Gemperle zu übermässigem Alkoholgenuss neigt,
sich im Bewusstsein, dass er nachher führen wird, zum blossen Vergnügen
übermässig betrinkt und sich an einem Pfingstmontag, wo erfahrungsgemäss
starker Verkehr herrscht, in einem schweren Rausch ans Steuer setzt,
der legt ein Verhalten an den Tag, das durchaus persönlichkeitsadäquat
ist und nicht ein einmaliges Versagen darstellt. Entgegen der Annahme
des Beschwerdeführers setzt die Verweigerung des bedingten Strafvollzugs
nicht zwei oder mehrere Entgleisungen voraus. Wenn das Bundesgericht in
seiner Rechtsprechung den Begriff der einmaligen Entgleisung geprägt hat,
so hat es damit bloss hervorheben wollen, dass ein Verhalten, das nicht
dem Persönlichkeitsbild des Täters entspricht, also nicht Ausdruck eines
Charakterfehlers ist, ein einmaliges Versagen darstellt und die Gewährung
des bedingten Strafvollzuges nicht notwendig ausschliesst. Umgekehrt
kann jedoch schon ein einmaliges Führen in angetrunkenem Zustand zur
Verweigerung des bedingten Strafvollzugs führen, wenn die damit bekundete
Hemmungs- und Rücksichtslosigkeit Ausdruck eines Charaktermangels
ist. Das trifft hier zu. Dazu kommt, dass auch das Vorleben Gemperles
nicht makellos ist. Sein Vorstrafenregister weist nicht weniger als 10
Verurteilungen auf. Mögen diese auch in die Zeit vor 1959 zurückreichen,
so sind sie doch für die Prognose nicht völlig belanglos (BGE 98 IV 82).

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Nichtigkeitsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.