Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 II 345



100 II 345

52. Urteil der I. Zivilabteilung vom 26. September 1974 i.S. Incommerz
AG gegen X. Regeste

    Darlehen.

    1.  Auslegung des Vertrages nach dessen Wortlaut und dem Verhalten
der Parteien (Erw. 1).

    2.  Art. 2 ZGB. Darlehen auf Lebenszeit des Darleihers: Unzumutbarkeit
wegen Änderung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse (Erw. 2)?

    3.  Art. 107 OR. Der Darleiher kann nach dieser Vorschrift vom Vertrag
zurücktreten, wenn der Borger fälligen Zins nicht bezahlt (Erw. 3).

    4.  Art. 83 und 316 OR. Diese Bestimmungen ermächtigen den Darleiher
nicht, den Vertrag wegen ausstehender Zinse sofort aufzulösen, ohne sich
an Art. 107 OR zu halten (Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- Am 7. November 1964 schlossen X. und seine Ehefrau einerseits
mit Scherer, dem Vater von Frau X., sowie dessen zwei weiteren Kindern
anderseits über die Liegenschaft "Engistein", bestehend aus Haus und Stall,
einen "Erbteilungs- und Kaufvertrag". Scherer gewährte den Käufern auf die
Kaufsumme, die sie auf Fr. 40 000.-- festsetzten, ein Darlehen von Fr.
19059.22; dieses wurde unter Vorbehalt unvorhergesehener Vorkommnisse,
wie z.B. schwere Erkrankung, auf Lebenszeit des Darleihers gegeben
und durch eine Grundpfandverschreibung sichergestellt. Am 31. Dezember
1964 ersetzten Scherer und X. die Vereinbarung über das Darlehen durch
einen neuen Vertrag, in dem der Vorbehalt unvorhergesehener Vorkommnisse
weggelassen wurde. X. verpflichtete sich, das Darlehen zu 4% zu verzinsen
und es nach Ableben des Gebers, frühestens aber nach zehn Jahren an
Scherers Kinder, die den Vertrag mitunterzeichneten, zurückzuerstatten.

    Am 15. November 1966 kaufte X. seiner Frau ihren Anteil an der
Liegenschaft "Engistein" ab. In der Folge liess er sich scheiden und
heiratete L. M., mit der er am 18. August 1969 die Gütertrennung
vereinbarte. Mit Vertrag vom 22. Juni 1970 verkaufte er ihr die
Liegenschaft "Engistein" zum Preise von Fr. 86000.--, der durch Übernahme
einer Grundpfandschuld in gleicher Höhe getilgt wurde. X. liess sich ein
lebenslängliches, unentgeltliches Nutzniessungsrecht und zum Preise von
Fr. 86000.-- ein Vorkaufsrecht an der Liegenschaft einräumen, verpflichtete
sich aber, die Grundpfandzinsen zu bezahlen.

    Scherer trat die Darlehensforderung bereits am 27. Juli 1967 an
seine drei Kinder ab, von denen die Forderung gemäss Zessionsurkunde
vom 30. Oktober 1968 auf die Incommerz AG überging. Diese liess X. im
September 1971 betreiben und, als er Rechtsvorschlag erhob, im Dezember
1971 gegen ihn auf Zahlung von Fr. 19059.22 nebst Fr. 508.25 Zins und
Fr. 40.- Betreibungskosten klagen.

    B.- Das Landgericht und auf Appellation hin am 28.  November 1973
auch das Obergericht Uri verurteilte X. zur Zahlung des Zinses, wiesen
die Klage im übrigen aber ab, weil das Darlehen noch nicht zur Rückzahlung
fällig sei.

    C.- Die Klägerin hat gegen das Urteil des Obergerichts Berufung
eingelegt. Sie beantragt, es aufzuheben und ihr Klagebegehren im vollen
Umfange gutzuheissen.

    Der Beklagte beantragt, die Berufung abzuweisen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Klägerin führte bereits im kantonalen Verfahren aus, der im
Erbteilungs- und Kaufvertrag vom 7. November 1964 enthaltene Vorbehalt
"unvorhergesehener Vorkommnisse" müsse auch für den Darlehensvertrag vom
31. Dezember 1964 gelten. Sie besteht zudem darauf, dass der Beklagte
das Darlehen als Schwiegersohn Scherers erhalten habe; diese klare
Voraussetzung für die Gewährung des Darlehens auf Scherers Lebenszeit sei
aber infolge Scheidung des Beklagten von seiner ersten Frau dahingefallen.

    Richtig ist, dass Scherer nach dem Wortlaut des Vertrages vom
31. Dezember 1964 das Darlehen "seinem Schwiegersohn" X. eingeräumt
hat und dass bereits im Erbteilungs- und Kaufvertrag von Bedingungen
des Darlehens, insbesondere von einer Gewährung auf Lebenszeit die
Rede ist. In anderen Punkten weichen die Verträge jedoch deutlich
voneinander ab. Im Erbteilungs- und Kaufvertrag wurde das Darlehen durch
eine Grundpfandverschreibung sichergestellt, im spätern Vertrag aber
vereinbart, die Eintragung im Grundbuch zu löschen. Auch liessen die
Parteien den Vorbehalt unvorhergesehener Vorkommnisse fallen. Dass dies
aus Versehen geschehen sei, ist umsoweniger anzunehmen, als der Vorbehalt
im früheren Vertrag bei der Dauer des Darlehens angebracht wurde, diese
Dauer nach dem spätern jedoch mindestens zehn Jahre betragen soll. Es geht
daher entgegen der Auffassung der Klägerin nicht an, den Vorbehalt bei
Auslegung des Vertrages vom 31. Dezember 1964 gleichwohl berücksichtigen
zu wollen. Auch kann offen bleiben, ob damit bloss Vorkommnisse in der
Person des Darleihers oder auch andere Ereignisse, insbesondere eine
Scheidung des Beklagten von seiner Frau, gemeint gewesen seien.

    Das Obergericht stellt fest, es lägen keine Anhaltspunkte dafür
vor, dass die Parteien des Darlehensvertrages dessen Gültigkeit von
ihrer Schwägerschaft abhängig machen wollten. Diese Feststellung
der Vorinstanz über den Willen der Vertragsschliessenden ist für das
Bundesgericht verbindlich, denn sie beruht nicht auf einer blossen
Auslegung des Vertragstextes, sondern namentlich auf der Würdigung des
Beweisergebnisses (BGE 76 II 144, 88 II 34/5 und 78/9). Das Obergericht
hält der Klägerin übrigens mit Recht entgegen, dass das eigene Verhalten
der Vertragsparteien nach der Scheidung ebenfalls nicht darauf schliessen
lässt, das Darlehen sei wegen Auflösung der Ehe zur Rückzahlung fällig
geworden. Der Beklagte hat das Darlehen auch nach der Scheidung verzinst,
und die Gegenpartei hat die Zinsen entgegengenommen. Die Klägerin hat sich
zudem im Aberkennungsprozess, den der Beklagte 1969/70 gegen sie führte,
nicht auf Fälligkeit des Darlehens infolge Scheidung berufen.

Erwägung 2

    2.- Die Klägerin macht ferner geltend, nach den Umständen könne ihr
nicht mehr zugemutet werden, das Darlehen für die vereinbarte Dauer
zu gewähren. Die Gründe, die sie dafür anführt, beruhen teils auf
persönlichen, teils auf wirtschaftlichen Verhältnissen.

    a) Aus der persönlichen Beziehung, die bei Abschluss des
Darlehensvertrages zwischen dem Darleiher und dem Borger bestand
und die durch die Scheidung des Borgers aufgelöst wurde, kann die
Klägerin schon deshalb nichts zu ihren Gunsten ableiten, weil solche
Beziehungen jedenfalls für einen Vertrag auf entgeltliche Überlassung
einer Geldsumme unwesentlich sind; diesfalls wird der Vertrag selbst unter
Verwandten vor allem aus wirtschaftlichen Überlegungen abgeschlossen. Beim
verzinslichen Darlehen kann es daher für den Darleiher nicht schon wegen
einer Störung seines persönlichen Verhältnisses zum Borger unzumutbar
sein, diesem das für längere Zeit gewährte Darlehen bis zum Ablauf der
Vertragsdauer zu überlassen. Dazu kommt, dass die Darlehensforderung
durch Abtretung von Scherer auf dessen Kinder und von diesen auf die
Klägerin übergegangen ist. Zwischen der Klägerin und dem Borger besteht
aber keine verwandschaftliche Beziehung, weshalb eine persönlich bedingte
Unzumutbarkeit, das Darlehen aufrechtzuerhalten, zum vorneherein zu
verneinen ist.

    b) Bei langfristigen Verträgen müssen die Parteien zudem mit der
Möglichkeit rechnen, dass die zur Zeit des Vertragsschlusses bestehenden
Verhältnisse sich während der Vertragsdauer ändern. Sehen sie ausdrücklich
oder dem Sinne nach davon ab, den Einfluss solcher Änderungen auf die
gegenseitigen Leistungen auszuschliessen, so entspricht es dem Wesen
des Vertrages, dass er so erfüllt wird, wie er abgeschlossen worden
ist. Diesfalls hat jede Partei grundsätzlich die Risiken zu tragen,
die sich für sie aus Änderungen der Verhältnisse ergeben. Sie hat keinen
Anspruch darauf, dass die Vertragserfüllung sich für sie lohnend gestalte
und der Vertrag aufgehoben oder geändert werde, wenn dies nicht mehr
zutrifft (BGE 59 II 304 mit Verweisungen, 63 II 82; MERZ, N. 188 zu
Art. 2 ZGB).

    Ein richterlicher Eingriff auf Verlangen einer Partei ist gestützt
auf Art. 2 ZGB nur zulässig, wenn die Verhältnisse von Leistung und
Gegenleistung infolge ausserordentlicher Änderung der Umstände so gestört
sind, dass die sich aus dem Vertrag ergebende Risikoverteilung für die
eine Partei nicht mehr tragbar und das Festhalten der Gegenpartei an ihrem
Anspruch nach den gesamten Umständen missbräuchlich ist (BGE 59 II 378/9,
62 II 45, 67 I 300, 68 II 173; vgl. ferner 93 II 188; MERZ, ZSR 1942 S. 499
a ff. und N. 233 zu Art. 2 ZGB; DESCHENAUX, Schweizerisches Privatrecht,
Basel 1967, Bd. II S. 199 ff.).

    Davon kann im vorliegenden Fall nicht die Rede sein. Die seit Abschluss
des Darlehensvertrages eingetretenen Änderungen bestehen im wesentlichen
darin, dass die wirtschaftliche Lage des Borgers sich verschlechtert
hat. Mit diesem Risiko muss aber ein Darleiher rechnen, zumal wenn er wie
Scherer ausdrücklich auf eine Sicherstellung verzichtet. Es kann daher
für die Beurteilung des Rechtsverhältnisses auch nicht darauf ankommen,
dass der Beklagte das Eigentum an der Liegenschaft "Engistein", die
ursprünglich als Sicherheit diente, auf seine zweite Frau übertragen
liess. Ebensowenig hilft der Klägerin, dass der Beklagte in dem von ihm
angestrengten Aberkennungsprozess der Rückzahlungspflicht mit fragwürdigen
Mitteln zu entgehen suchte und, als ihm dies misslang, darauf beharrte,
das Darlehen sei ihm auf Scherers Lebenszeit gewährt worden. Weder das eine
noch das andere machte die Ausübung seiner Rechte aus dem Darlehensvertrag
missbräuchlich im Sinne von Art. 2 Abs. 2 ZGB.

Erwägung 3

    3.- Das Gesetz sieht beim Darlehen kein Rücktrittsrecht des Darleihers
für den Fall vor, dass der Borger den Zins nicht bezahlt. Ist ein solches
Recht auch vertraglich nicht vereinbart worden, so kann der Darleiher bei
Verzug des Borgers nur nach Art. 107 OR vorgehen (OSER/SCHÖNENBERGER, N. 7
zu Art. 318 OR). Er kann ihm eine Nachfrist zur nachträglichen Erfüllung
ansetzen und bei fruchtlosem Ablauf der Frist, wenn er es unverzüglich
erklärt (Art. 107 Abs. 2 OR), vom Vertrag zurücktreten.

    Der Beklagte befand sich seit 1968 in Verzug, weil er den Zins für
1967 Ende Dezember nicht bezahlte. Mit Schreiben vom 14. November 1968
setzte die Klägerin ihm "eine letzte Frist von zehn Tagen" zur Zahlung
und fügte bei, dass sie bei "Nichtbezahlen des Zinses" berechtigt sei,
das Darlehen zu kündigen. Der Beklagte liess die Frist, die der Vorschrift
des Art. 107 OR genügte, unbenützt verstreichen. Gleichwohl erwähnte
die Klägerin in ihrem Schreiben vom 28. November 1968 an den Beklagten
den ausstehenden Zins mit keinem Wort, noch machte sie von ihrem Recht
Gebrauch, vom Darlehensvertrag zurückzutreten oder ihn "zu kündigen",
wie sie dem Beklagten am 14. November drohte; sie machte den Beklagten
vielmehr auf den Ende 1968 fälligen Zins aufmerksam, hielt also am Vertrag
fest. Ihr Verhalten kann nur so verstanden werden, dass die Drohung selbst
nach dem Willen der Klägerin keine Rücktrittserklärung enthielt. Eine
solche hat sie auch sonst nicht abgegeben. Sie begnügte sich damit,
die Darlehensforderung unbekümmert um die Voraussetzungen des Wahlrechts
gemäss Art. 107 OR über zwei Jahre später in Betreibung zu setzen.

Erwägung 4

    4.- Die Fälligkeit des Darlehens ergibt sich nach der Auffassung
der Klägerin ferner aus einer analogen Anwendung von Art. 83 und 316 OR
auf den vorliegenden Fall. Die Klägerin macht geltend, im Falle einer
Gefährdung der Rückzahlung dürfe der Darleiher nicht nur die Aushändigung
des Betrages verweigern, wie Art. 316 OR es vorsehe, sondern einen bereits
hingegebenen Betrag auch sofort zurückzuverlangen.

    Für eine solche Auslegung ist Art. 316 OR jedoch nichts zu entnehmen.
Diese Bestimmung will wie Art. 83 OR den vorleistungspflichtigen
Vertragspartner schützen, bei Darlehensverträgen also den Darleiher,
der dem Borger den Betrag zur Nutzung überlassen muss, bevor er Zinsen
und Rückzahlung verlangen darf. Hat er den Betrag bereits hingegeben, so
besteht indes kein Anlass, ihn über die Behelfe von Art. 107 OR hinaus
zu schützen. Er befindet sich nach der Hingabe des Darlehens in der
gleichen Lage wie jeder andere Gläubiger, der selbst bereits erfüllt
und eine Forderung gegen den Schuldner hat. Nur bei Miete und Pacht
ermächtigt das Gesetz den Gläubiger, den Vertrag bei Nichtbezahlung des
Zinses aufzulösen, ohne sich an die Vorschriften des Art. 107 OR halten
zu müssen. Diese Regelung darf jedoch nicht durch extensive Auslegung
auf andere Vertragsverhältnisse übertragen werden. Art. 265 und 293
sind Ausnahmebestimmungen, die nur für die Verträge gelten, für die
sie ausdrücklich vorgesehen sind. Es lässt sich deshalb entgegen den
Einwänden der Klägerin nicht sagen, bei Dauerschuldverhältnissen führten
die Zahlungsunfähigkeit und die Zahlungsunwilligkeit des Schuldners
zur Auflösung des Vertrages. Das ist weder BGE 92 II 299 ff. noch
VON TUHR/SIEGWART, OR II S. 615 zu entnehmen. Diese Autoren befassen
sich an der zitierten Stelle mit Art. 83 und 316 OR, ziehen daraus aber
nicht Schlüsse wie die Klägerin. Der angeführte Entscheid sodann enthält
Erwägungen über die Auflösung von Dauerschuldverhältnissen aus wichtigen
Gründen, wobei aber hervorgehoben wird, eine solche Auflösung müsse eine
Ausnahme bleiben, weil sie nur gerechtfertigt sei, wenn dem Gläubiger ein
Vorgehen nach Art. 107 OR nicht zuzumuten ist. Dies trifft hier nicht
zu. Die Klägerin hätte schon 1968 den Rücktritt vom Darlehensvertrag
erklären können, hat von diesem Recht gemäss Art. 107 OR aber nicht
Gebrauch gemacht.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Berufung wird abgewiesen und das Urteil des Obergerichts Uri
vom 28. November 1973 bestätigt.