Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 II 298



100 II 298

43. Auszug aus dem Urteil der II. Zivilabteilung vom 7. November 1974
i.S. Maurer gegen Feltscher. Regeste

    Art. 333 ZGB; Verantwortlichkeit des Familienhauptes

    Die Beaufsichtigungspflicht im Sinne von Art. 333 ZGB umfasst nicht nur
die Pflicht zur eigentlichen Überwachung des Unmündigen, sondern auch zur
Ergreifung aller Massnahmen, die geeignet sind, den Minderjährigen an der
Verursachung eines Schadens zu hindern. Insbesondere hat das Familienhaupt
dafür zu sorgen, dass einem Minderjährigen, dem ein gefährliches Instrument
zum Gebrauch überlassen wird, die nötigen Anleitungen gegeben werden,
damit er sich des Instruments ohne Gefährdung Dritter bedienen kann. Ein
solches gefährliches Instrument stellt ein Luftgewehr dar, das einem
15-jährigen Knaben überlassen wird (Erw. 3).

    Art. 46 OR

    Bei der Abschätzung der künftigen Erwerbseinbusse eines verunfallten
Kindes sind alle Umstände, insbesondere auch die beruflichen Aussichten
des Kindes, zu berücksichtigen. Annahme eines Invaliditätsgrades von 25%
bei einem 15-jährigen Knaben, der durch einen Unfall ein Auge verloren hat
(Erw. 4).

Sachverhalt

    A.- Stefan Maurer, geboren 1955, und Anton Mittner schossen am
Nachmittag des 7. April 1970 südlich der Ortschaft Felsberg in der in
einer Mulde beim Rhein gelegenen Kehrichtdeponie mit ihren Luftgewehren
auf Ratten. Gegen 18 Uhr kamen Markus Feltscher, geboren 1957, und ein
weiterer Knabe mit Abfällen in die Kehrichtgrube. Sie sahen lediglich Anton
Mittner, der in der Mitte der Grube auf Ratten lauerte, während sie den
in der Nähe in einem Gebüsch verharrenden Stefan Maurer nicht bemerkten.
Dieser seinerseits sah die beiden ankommenden Knaben, schenkte ihnen jedoch
keine weitere Aufmerksamkeit. Als er dann einen Schuss gegen eine Ratte
abgab, prallte die Kugel an einem harten Gegenstand ab und traf den 5-10
Meter neben der eigentlichen Flugbahn stehenden Markus Feltscher ins rechte
Auge. Die Verletzung hatte den Verlust des Auges zur Folge. Der behandelnde
Arzt führte in seinem Gutachten vom 30. Juli 1970 unter anderem aus:

    "Nach schwerer Schussverletzung des Auges Erblindung desselben. Der
Bulbus ist geschrumpft. Für die Zukunft bleibt zu fürchten, dass das
Wachstum der knöchernen Augenhöhle zurückbleibt und eine Gesichtsasymetrie
resultiert. Mit einer Bulbus-Schalenprothese wird das kosmetische Aussehen
zu bessern sein. Halbjährliche Kontrollen werden nötig sein wegen der
latenten Gefahr der sympathischen Ophtalmie im linken gesunden Auge.

    Die Verletzung ist als schwere Körperverletzung zu bezeichnen.

    Invaliditätsgrad: Dauerinvalidität vorläufig mit 30% anzusetzen."

    Der von der Versicherungsgesellschaft Union beigezogene Gutachter
kam zu ähnlichen Schlussfolgerungen und bezifferte die Dauerinvalidität
des verletzten Knaben ebenfalls auf 30%.

    B.- Mit Leitschein vom 1. Februar 1972 und Prozesseingabe vom
21. Februar 1972 verlangte Markus Feltscher beim Bezirksgericht Imboden,
Stefan Maurer, der Vater des Schädigers, sei zu verpflichten, ihm Fr. 136
528.-- nebst 5% Zins von Fr. 111 688.-- seit 7. April 1970 zu zahlen. Die
Forderung setzte sich zusammen aus einer kapitalisierten Rente in der
Höhe von Fr. 111 688.-- sowie Fr. 4840.-- für künftige Arztkosten und
Fr. 20 000.-- für Genugtuung.

    Das Bezirksgericht Imboden hiess die Klage am 14. März 1973 gut,
indem es dem Kläger eine aufgeschobene Invalidenrente von Fr. 124 125.--
sowie Fr. 4718.-- für regelmässige ärztliche Kontrolluntersuchungen und
Fr. 7685.-- als Genugtuung, total also Fr. 136 528.--, nebst 5% Zins von
Fr. 111 688.-- seit dem Datum der Urteilsfällung zusprach.

    Die Berufung des Beklagten gegen dieses Urteil wurde vom Kantonsgericht
von Graubünden am 25. März 1974 abgewiesen.

    C.- Gegen diesen Entscheid erhebt der Beklagte Berufung an das
Bundesgericht mit dem Antrag, die Klage sei abzuweisen, eventuell sei sie
im Fr. 30 000.-- (inklusive Genugtuung) übersteigenden Betrag abzuweisen,
subeventuell sei bei Bejahung der Haftpflicht nach Art. 333 ZGB gestützt
auf Art. 46 Abs. 2 OR von Amtes wegen infolge völliger Ungewissheit
der Verminderung der Erwerbsfähigkeit des Verletzten zugunsten des
Klägers ein Rektifikationsvorbehalt ins Urteil aufzunehmen des Inhalts,
dass die Bemessung der Ersatzpflicht für eventuell doch beeinträchtigte
Erwerbsfähigkeit nach getroffener Berufswahl des Verletzten Gegenstand
einer zweiten Schadenersatzklage sein solle.

    Das Bundesgericht weist die Berufung ab, soweit darauf einzutreten ist,
und bestätigt das angefochtene Urteil.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

Erwägung 3

    3.- a) Nach Art. 333 ZGB haftet für Schäden, die von einem unmündigen
Hausgenossen verursacht worden sind, das Familienhaupt, sofern es nicht
darzutun vermag, dass es das übliche und durch die Umstände gebotene
Mass von Sorgfalt in der Beaufsichtigung beobachtet hat. Die mangelhafte
Beaufsichtigung des Unmündigen durch das Familienhaupt wird gesetzlich
vermutet. Der Beklagte hat zu beweisen, dass er die den Umständen
angemessene Aufsicht ausgeübt hat (BGE 57 II 131; EGGER, N. 12 und 14
und SILBERNAGEL, N. 9, 14 und 16 f. zu Art. 333 ZGB).

    Das Mass der dem Familienhaupt obliegenden Sorgfaltspflicht in
der Beaufsichtigung eines unmündigen Hausgenossen richtet sich nicht
nach abstrakten Prinzipien, sondern nach den konkreten Verhältnissen
des einzelnen Falles. Die Rechtsprechung stellt als Kriterium für das
durch die Umstände gebotene Mass von Sorgfalt zunächst darauf ab, ob eine
schädigende Haltung des Hausgenossen überhaupt voraussehbar gewesen sei
oder nicht. Fehlt es an dieser Voraussetzung, so kann dem Familienhaupt
das Ungenügen einer über das übliche Mass hinausgehenden Überwachung
nicht zum Vorwurf gemacht werden (BGE 79 II 353 und 74 II 196).

    Besteht Grund für die Annahme, dass der Unmündige durch sein Verhalten
einem Dritten Schaden zufügen könnte, so richtet sich das dem Familienhaupt
obliegende übliche und durch die Umstände gebotene Mass von Sorgfalt nach
den örtlichen, sozialen und persönlichen Verhältnissen, insbesondere
den lokalen Gegebenheiten, dem Alter und Charakter des Unmündigen und
der Natur des Instrumentes, mit dem möglicherweise ein Schaden verursacht
werden kann. Die Beaufsichtigungspflicht im Sinne von Art. 333 ZGB umfasst
nicht nur die Pflicht zur eigentlichen Überwachung des Unmündigen, sondern
auch die Pflicht zur Ergreifung aller Massnahmen, die geeignet sind, den
Minderjährigen an der Verursachung eines Schadens zu hindern (BGE 95 II
259/60, 79 II 353 und 57 II 129). Insbesondere hat das Familienhaupt dafür
zu sorgen, dass einem Minderjährigen, dem ein gefährliches Instrument zum
Gebrauch überlassen wird, die nötigen Anleitungen gegeben werden, damit
er sich des Instrumentes ohne Gefährdung Dritter bedienen kann (BGE 43 II
147). Es geht nicht an, einem Unmündigen ein gefährliches Instrument zu
überlassen und ihn damit frei schalten und walten zu lassen (BGE 62 II 74).

    b) Dass ein Luftgewehr bei unkorrekter Handhabung schwere Verletzungen
verursachen kann, beweisen der Unfall und die Tatsache, dass durch
derartige Schusswaffen schon wiederholt ähnliche schwere Unfälle
herbeigeführt wurden (vgl. dazu BGE 57 II 564, 44 II 8, 41 II 419,
32 II 460). Man kann sich fragen, ob ein Luftgewehr angesichts seiner
Gefährlichkeit einem 15-jährigen Knaben überhaupt zum unbeaufsichtigten
Gebrauch überlassen werden dürfe. Das Bundesgericht beurteilte diese Frage
in früheren Entscheiden verschieden, wobei die Natur der Waffe nicht
immer dieselbe war: In BGE 32 II 461 nahm es mit den Vorinstanzen an,
der Berufungskläger hätte nicht gestatten dürfen, dass sein 15-jähriger
Sohn in seiner Abwesenheit eine sogenannte Windbüchse benütze. In BGE
41 II 92 führte es aus: ein Flobert-Luftdruckgewehr "Diana" stelle keine
gefährliche Waffe, sondern ein harmloses Spielzeug dar und werde in den
Geschäften selbst an kleine Kinder verkauft, die nicht in Begleitung
ihrer Eltern seien. In BGE 43 II 146 liess es grundsätzlich offen, ob
einem Fünfzehnjährigen ein Flobert-Gewehr zum unbeaufsichtigten Gebrauch
überlassen werden dürfe. Die Frage muss auch heute nicht abschliessend
beantwortet werden. Wird sie bejaht, so ist doch immerhin für jedermann
voraussehbar, dass schwere Unfälle entstehen können, wenn der Unmündige
die Waffe nicht richtig handhabt. Um diese Unfälle nach Möglichkeit
zu verhüten, ist deshalb unter allen Umständen erforderlich, dass das
Familienhaupt dem Unmündigen die notwendigen Anweisungen über den Gebrauch
der Waffe sowie die erforderlichen Aufklärungen über die Gefährlichkeit
und die Massnahmen zur Verhütung von Unfällen gibt oder geben lässt.

    Nach den tatsächlichen Festellungen der Vorinstanz, die für das
Bundesgericht verbindlich sind und die es seinem Entscheid zugrunde
zu legen hat (Art. 63 Abs. 2 OG), überliess der Beklagte seinem Sohne
die Waffe ohne oder mit ungenügenden Instruktionen, und dies obschon
er wusste, dass sein Sohn sich mit der Waffe frei bewegte und in der
jedermann zugänglichen Kehrichtdeponie auf Ratten schoss. Damit verletzte
er die ihm obliegende Aufsichtspflicht im Sinne von Art. 333 ZGB.

    c) Was der Beklagte dagegen vorbringt, dringt nicht durch. Soweit
er geltend macht, er habe seinem Sohn Weisungen erteilt und
Vorsichtsmassnahmen getroffen, richtet er sich gegen verbindliche
vorinstanzliche Feststellungen, was gemäss Art. 55 Abs. 1 lit. c OG nicht
zulässig ist. Wohl hat das Bundesgericht ausgeführt, dass Kinder in ihrer
Bewegungsfreiheit nicht allzu sehr eingeschränkt werden dürfen und von
einem gewissen Alter an keiner ständigen Überwachung mehr bedürfen (BGE
95 II 259/60). Dem Beklagten mag auch zugestanden werden, dass sein Sohn
gesund ist, einen guten Ruf geniesst, einer ehrbaren Familie entstammt,
einen gewissen Grad von Reife besitzt und durch den zwei Jahre früher
verursachten Schiessunfall, wobei er einen jüngern Bruder durch einen
Streifschuss am Kopf verletzt hatte, bceindruckt worden war. Das alles war
aber noch kein hinreichender Grund für die Annahme, dass sein Sohn nun alle
Gefahren kenne, die mit dem Umgang eines Luftgewehres verbunden sind. Der
Beklagte wäre demnach in seiner Eigenschaft als Familienhaupt verpflichtet
gewesen, den Sohn über diese Gefahren umfassend aufzuklären. Der frühere
Vorfall liess eine solche Aufklärung und eine eindringliche Ermahnung
besonders notwendig erscheinen. Wenn der Beklagte unter diesen Umständen
keine Instruktionen erteilte, keine weiteren Vorsichtsmassnahmen traf
und ernsthafte Ermahnungen unterliess, verletzte er seine Aufsichtspflicht.

    Der Umstand, dass in der Schweiz für 15-jährige Knaben
Kleinkaliber-Kurse und für Siebzehnjährige Jungschützenkurse durchgeführt
werden, entlastet den Beklagten nicht. Die jungen Schützen erhalten
in diesen Kursen die erforderlichen Instruktionen und Aufklärungen,
während der Beklagte es im vorliegenden Fall unterliess, für die nötige
Belehrung besorgt zu sein. Dass andere Knaben ähnliche Gewehre besassen
und in der Mülldeponie ebenfalls auf Ratten schossen und dass im Kanton
Graubünden Jagd und Jagdleidenschaft weit verbreitet und im Volk tief
verwurzelt sind, befreite den Beklagten nicht von seiner Aufsichts-
und Aufklärungspflicht. Ob andere Familienväter, deren Söhne in der
Kehrichtdeponie gelegentlich ebenfalls auf Ratten schossen, ihrer
Aufsichtspflicht nachgekommen seien, steht hier nicht zur Diskussion.

    Daraus, dass sich der Unfall in einer Mülldeponie zutrug, kann
der Beklagte ebenfalls nichts zu seinen Gunsten ableiten. Die Deponie
war jedermann zugänglich, so dass dort jederzeit mit dem unerwarteten
Auftauchen Dritter gerechnet werden musste. Das war ein Grund mehr,
die dort nach Ratten jagenden Kinder eindringlich auf die Gefahren ihres
Verhaltens aufmerksam zu machen.

    Der Beklagte macht schliesslich geltend, die Unterlassung der nötigen
Aufklärung habe den Unfall nicht adäquat verursacht; denn sein Sohn habe
nicht in der Richtung der Kinder gezielt und ein Geschoss könne auch bei
bester und sorgfältigster Instruktion abprallen. Zur Aufklärung über die
Gefahren des Schiessens gehört jedoch auch der Hinweis auf die Gefährdung
durch mögliche Prellschüsse. Der Beklagte hätte seinem Sohn deshalb nicht
nur verbieten müssen, direkt auf Personen zu zielen, sondern er hätte
ihn auch eindringlich ermahnen müssen, nie auf ein Ziel zu schiessen,
wenn sich so nahe bei diesem Personen befinden, dass sie allenfalls durch
Splitter oder Querschläger verletzt werden können. Die Unterlassung dieser
Mahnung war für den Unfall kausal. Der Beklagte ist deshalb im Sinne von
Art. 333 ZGB für die Folgen des Unfalles haftbar.

    Die Vorinstanz hat ein Selbstverschulden des Klägers verneint, und
ihr Urteil ist diesbezüglich nicht angefochten. Den Beklagten trifft
demnach die volle Haftung.

Erwägung 4

    4.- a) Der Beklagte wirft der Vorinstanz sodann vor, sie habe den
Schaden falsch berechnet. Das Bundesgericht kann in diesem Zusammenhang
prüfen, ob das letzte kantonale Gericht bei der Frage der Einschätzung
der Verminderung der Erwerbsfähigkeit von richtigen Gesichtspunkten
ausgegangen sei und nicht bestimmte Faktoren zu Unrecht ausser acht
gelassen bzw. mitberücksichtigt habe; denn dies sind Rechtsfragen. Es
kann ferner prüfen, ob nicht trotz nachgewiesener Beeinträchtigung
der Erwerbsfähigkeit angesichts besonderer Umstände eine materielle
Schädigung nicht oder nur in geringerem Umfange vorliege (BGE 72 II 206
mit Verweisungen).

    Im Falle einer Köperverletzung ist der Erschwerung des wirtschaftlichen
Fortkommens des Verletzten Rechnung zu tragen (Art. 46 Abs. 1
OR). Der Schaden muss in einem solchen Fall regelmässig auf Grund der
Lebenserfahrung ermittelt werden; denn es steht nie zum vorneherein sicher
fest, wie sich das Einkommen eines Geschädigten bei voller Arbeitsfähigkeit
in Zukunft entwickeln würde und wie hoch es wegen der Verminderung der
Erwerbsfähigkeit tatsächlich sein wird. Auch die Folgen der Verletzung
können unsicher sein, welchem Umstand Art. 46 Abs. 2 OR ausdrücklich
Rechnung trägt (BGE 86 II 45 f).

    Erleidet ein Kind eine Körperverletzung, die einen bleibenden
körperlichen Nachteil zur Folge hat, so ist seine spätere Erwerbseinbusse
nur schwer abzuschätzen. Das darf den Richter aber nicht hindern, diese
Schätzung unter Berücksichtigung aller in Betracht kommender Umstände
trotzdem vorzunehmen. Dabei darf sich die noch verbleibende Ungewissheit
nicht zu Ungunsten des Klägers auswirken. Sie muss vielmehr vom Beklagten,
der für das schädigende Ereignis einzustehen hat, in Kauf genommen werden
(BGE 95 II 264 und 81 II 518).

    b) Als Ausgangspunkt für ihre Berechnungen stellte die Vorinstanz
auf den Invaliditätsgrad ab, was vom Beklagten ausdrücklich als richtig
anerkannt wird. Die beiden sachverständigen Ärzte schätzten in den bei
den Akten liegenden Gutachten die Invalidität des Klägers im Endzustand
auf 30%. Die beiden Vorinstanzen nahmen jedoch im Hinblick auf seine
Jugendlichkeit und die dadurch bedingte grössere Anpassungsfähigkeit
nur eine Invalidität von 25% an. Der Beklagte hält auch das noch für
zu viel und behauptet, die Einäugigkeit vermöge eine Beschäftigung
weder zu verunmöglichen noch zu beeinträchtigen. Da der Kläger noch in
jugendlichem Alter stehe, müsse er wegen des Unfalles keinen Berufswechsel
vornehmen und könne jede allfällige finanzielle Schlechterstellung selbst
vermeiden. Die Einäugigkeit habe in der Regel keine ins Gewicht fallende
Leistungsverminderung zur Folge. Dass beim Kläger das noch gesunde Auge
durch seine Beanspruchung leide oder vorzeitig abgenutzt werde, sei nicht
bewiesen. Der noch junge und anpassungsfähige Kläger habe eine ganze
Anzahl von Berufen zur Auswahl, in denen er durch die Einäugigkeit nicht
beeinträchtigt werde und keine Lohneinbusse erleide. Ein Erwerbsausfall sei
demnach weder ausgewiesen noch anzunehmen und deshalb nicht zu ersetzen.

    Wohl hat das Bundesgericht in BGE 95 II 265 ausgeführt, Kinder
seien viel anpassungsfähiger als Erwachsene; je jünger ein Kind sei,
wenn es eine Verstümmelung erleide, umso leichter werde es sich den
Gegebenheiten anpassen und versuchen, die Beeinträchtigung so gut als
möglich zu überwinden; die Ausbildung könne entsprechend dem körperlichen
Mangel geleitet und der Beruf so gewählt werden, dass der Mangel die
Erwerbsfähigkeit möglichst wenig beeinflusse.

    Der Verlust eines Auges bedeutet aber auch für Kinder eine sehr schwere
Beeinträchtigung, die tiefgreifende Folgen nach sich zieht. Der Kläger
ist dadurch schon in seiner Berufswahl eingeengt. Es bleiben ihm alle
Berufe verschlossen, in denen an optischen Geräten, welche binokulares
stereoskopisches Sehen voraussetzen, gearbeitet werden muss. Er wird nie
das Pilotenbrevet und den Führerausweis für Chauffeure der Kategorie
I und II erwerben können. Zivile und staatliche Stellen, welche die
Diensttauglichkeit voraussetzen, werden ihm nicht zugänglich sein.

    Sodann wird die Einäugigkeit den Kläger im beruflichen und
gesellschaftlichen Leben dauernd beeinträchtigen. Eine momentane Störung
des gesunden Auges bedeutet für ihn bereits den sofortigen Sehausfall. Die
Unfallgefahr wird dadurch stets erhöht sein, wogegen der Kläger sich durch
eine Brille nur teilweise wird schützen können. Er muss seine Augenprothese
regelmässig herausnehmen, die Augenhöhle pflegen und von Zeit zu Zeit
eine neue Prothese anfertigen lassen. Der Abschluss von Lebens- und
Unfallversicherungen wird dem Kläger nur zu höheren Tarifen möglich sein,
und die Aufnahme in Pensionskassen kann ihm Schwierigkeiten bereiten. Seine
Einäugigkeit kann ihn auch im freien Wettbewerb benachteiligen, weil
körperlich Unversehrte den Sehbehinderten oft vorgezogen werden. Die
ständige Behinderung kann zu erhöhten psychischen Belastungen führen,
und unter Umständen kann die Einäugigkeit sogar die Heiratsmöglichkeit
des Klägers beeinträchtigen.

    Wenn die Vorinstanz bei Berücksichtigung aller dieser Umstände von
einem Invaliditätsgrad von 25% ausging, kann dies nicht beanstandet
werden, umso weniger als das vom Beklagten im Berufungsverfahren
eingelegte Gutachten bei Verlust eines Auges allgemein sogar einen
Invaliditätsgrad von 30% annimmt. Dieses Gutachten gelangt im Rahmen einer
allgemeinen Invaliditätseinschätzung zu folgenden Werten: 10% für bleibende
Nachteile durch Seheinbusse, 10% zusätzlich bei Verlust des Auges und 10%
Risikoanteil (Invaliditätsrisiko), wobei es diese Zahlen als Mittelwerte
bezeichnet, die von Fall zu Fall etwas differieren können. In BGE 43 II 144
ff. gingen die Gerichte von einer dauernden Erwerbsunfähigkeit von 22-25%
aus bei einem Kind, dessen Auge durch ein Luftdruckgewehr beschädigt
wurde; der Unfall hatte eine erhebliche Beeinträchtigung der Sehschärfe
zur Folge. In BGE 81 II 161 ff. wurde die Invalidität eines Kindes, das
durch einen Eisenbahnunfall als bleibende Nachteile eine beträchtliche
kosmetische Entstellung des Gesichts, ein Auswärtsschielen des linken Auges
und eine starke linksseitige Schwachsichtigkeit erlitten hatte, auf 20%
veranschlagt. Da im vorliegenden Fall der Kläger das Auge verloren hat,
liegt die Annahme eines Invaliditätsgrades von 25% durchaus im Rahmen der
bisherigen Praxis. Eine Verletzung von Bundesrecht stellt diese Annahme
jedenfalls nicht dar.