Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 II 120



100 II 120

20. Auszug aus dem Urteil der I. Zivilabteilung vom 12. März 1974
i.S. Gemeinden Lavin und Guarda gegen Kanton Graubünden Regeste

    Eingriff in fremdes Grundeigentum. Notstand.

    1.  Wer Lawinen sprengt, obwohl sie Schaden anrichten können, handelt
widerrechtlich (Erw. D 2a).

    2.  Der Notstandsbegriff (Art. 52 Abs. 2 OR, Art. 701 Abs. 1 ZGB)
muss einheitlich sein. Verweist das kantonale Recht auf die ergänzende
Anwendung der Art. 41 f. OR, so ist auch die für Grundstücke geltende
Notstandsbestimmung (Art. 701 Abs. 1 ZGB) als stellvertretendes kantonales
Recht anwendbar (Erw. D 2b).

    3.  Voraussetzungen, unter denen die künstliche Auslösung von Lawinen
nach Art. 701 Abs. 1 ZGB gerechtfertigt ist (Erw. D3).

    4.  Entschuldbarer Irrtum bei der Sprengung. Haftung bei vermeintlicher
Notlage (Erw. D 4/5). Bemessung der Ersatzpflicht nach Art. 701 Abs. 2 ZGB.
Richterliches Ermessen. Berücksichtung der konkreten Umstände (Erw. D 6).

Auszug aus den Erwägungen:

    A. - Im Februar 1970 fielen in Teilen unseres Alpengebietes grosse
Schneemengen. Die Gegend von Lavin im Unterengadin wird bei solchen
Verhältnissen von Lawinen heimgesucht, die bis in die Talsohle vorstossen
können. Die dort am meisten gefürchtete Lawine hat ihr Anrissgebiet in
der Gegend von La Cudera östlich des Piz Chapisun, von wo sie durch eine
steile Rinne (Laviner da Gonda) und durch offenes und weniger steiles
Gelände über die Bahnlinie und die Kantonsstrasse zum Inn hinunterstürzt.

    Die Kantonsstrasse war schon am 2. Februar 1970 bei Lavin
wegen Lawinengefahr gesperrt worden. Am 4. Februar wurde versucht,
die Gondalawine durch den Abwurf von Sprengkörpern aus einem
Helikopter künstlich auszulösen. Es ereigneten sich aber nur kleine
Schneerutsche. Hierauf wurde der Verkehr auf der Kantonsstrasse
freigegeben.

    Am 21. Februar 1970 wurde die Kantonsstrasse nach ergiebigen
Schneefällen erneut gesperrt. Als noch mehr Schnee fiel, hielt der Leiter
des Tiefbauamtes des Bezirkes IV in Schuls, Porton, die Lawinengefahr für
derart gross, dass er beschloss, die Gondalawine künstlich auszulösen. Mit
dem Helikopterpiloten Ulrich Bärfuss flog er am Nachmittag des 25. Februar
in das Anrissgebiet und warf im obersten Teil des Kessels von La Cudera -
knapp unterhalb des Grates, der sich halbkreisförmig von Pt 2640 über
den Piz Chapisun, Pt 2931, nach Pt 2850 zieht (Landeskarte 1:25 000,
Blatt 1198 Silvretta) - etwa sieben Sprengladungen ab. Diese lösten um
ca. 15.00 Uhr die Gondalawine und sekundär die Urezzaslawine (Anrissgebiet
bei Muott'Auta) aus, die sich im Gebiet von Urezzas-Laviner da Gorda
vereinigten und mit grosser Gewalt ins Tal und über den Inn hinaus auf
die rechte Talseite bei Planturen und Prasüras stürzten. Eine weitere
Sekundärlawine löste sich vom Südostgrat des Piz Chapisun (in der Gegend
von Pt 2653) und fiel über Sur Salön ins Tal Tuoi (Gemeinde Guarda).

    Die Lawinen verursachten erhebliche Schäden an den Wäldern der
Gemeinden Lavin und Guarda. Ausserdem wurde in Planturen das Schützenhaus
des Schützenvereins von Lavin vollständig zerstört, ebenso eine der
Gemeinde Guarda gehörende Hirtenhütte auf Salön.

    B.- Die Gemeinden Lavin und Guarda sind der Auffassung, der
Kanton Graubünden habe ihnen gemäss Art. 8 des Gesetzes über die
Verantwortlichkeit der Behörden und Beamten und die Haftung der
öffentlich-rechtlichen Körperschaften vom 29. Oktober 1955 (VG, Amtl.
Gesetzessammlung GR Bd. 9 S. 820 ff.) Ersatz zu leisten für die Schäden,
welche die künstlich ausgelösten Lawinen angerichtet haben. Nachdem
Vergleichsverhandlungen gescheitert waren, reichten diese Gemeinden am 18.
Mai 1972 beim Bundesgericht eine Klage gegen den Kanton Graubünden
ein. Die Gemeinde Lavin verlangte den Ersatz von Fr. 101 457.35, die
Gemeinde Guarda von Fr. 28 400.50, beides mit 5% Zins seit 25. Februar
1970. An der Hauptverhandlung wurde der Forderungsbetrag für Lavin auf
Fr. 75 000.-- und derjenige für Guarda auf Fr. 13 216.50 herabgesetzt.

    Die Klägerinnen machen im wesentlichen geltend, die Sprengung
sei mutwillig erfolgt. Auf Grund der allgemeinen und der örtlichen
Lawinensituation habe nicht mehr mit dem Niedergang der Gondalawine
gerechnet werden müssen, da sich der Schnee grösstenteils gesetzt
hatte. Wenn die Gondalawine in früheren Jahren spontan gefallen sei,
habe sie üblicherweise den Inn nicht überquert oder sei höchstens bis
zum Weg von Planturen vorgestossen. Porton sei als Holländer mit den
örtlichen Verhältnissen nicht. vertraut gewesen und habe sich weder bei
den Einheimischen erkundigt noch Rat beim Schweizerischen Institut für
Lawinenforschung (SLF) eingeholt. Ausserdem habe er nicht für genügende
Sicherheitsmassnahmen vor der Sprengung gesorgt. Wenn aber überhaupt hätte
gesprengt werden müssen, dann hätte dies etappenweise erfolgen sollen,
um die Wucht der Lawine zu vermindern. Vorher hätten die vom Grate zu
Tal gehenden Schneemassen und deren Ausläufe berechnet werden sollen.

    Der Kanton bestreitet seine Haftung und macht in erster Linie
geltend, nach den Lawinenbulletins des SLF und dem Winterbericht (WB)
1969/70 habe damals eine akute Lawinengefahr bestanden, die noch Tage
und Wochen nach dem 25. Februar zu einem Grossabsturz hätte führen
können. Porton habe die Situation richtig beurteilt. Er sei seit 1965
Leiter des Tiefbauamtes des Bezirkes IV in Schuls, habe Ausbildungskurse
über Lawinenkunde und Sprengtechnik besucht und stets zur Zufriedenheit
seiner Vorgesetzten gearbeitet. Die von ihm vor der Sprengung angeordneten
Sicherheitsmassnahmen hätten genügt. Die Sprengung sei nötig gewesen, um
einen gefahrlosen Verkehr auf der Kantonsstrasse zu gewährleisten. Eine
andere Möglichkeit habe nicht bestanden, da die Gemeinde Lavin sich
geweigert habe, dem Kanton die Bewilligung zum Bau einer Lawinenwarnanlage
zu erteilen, die von der ASEGA (Firma der Signaltechnik, Elektronik und
Automatik) projektiert und vom SLF befürwortet worden sei.

    C.- (Prozessuales) D. - 1. - Nach Art. 8 VG sind der Kanton Graubünden,
die kantonalen Anstalten und die Bezirke verpflichtet, für Schaden Ersatz
zu leisten, der Dritten durch ihre Behörden und Beamten in Ausübung ihres
Dienstes widerrechtlich, sei es absichtlich, sei es fahrlässig, zugefügt
wird. Nach Art. 21 VG findet der Abschnitt des Obligationenrechts über
die unerlaubten Handlungen (Art. 41 ff.) ergänzende Anwendung, soweit
das VG selber keine Vorschriften aufstellt.

Erwägung 2

    2.- a) Gemäss Art. 667 ZGB erstreckt sich das Grundeigentum nach
oben und nach unten auf den Luftraum und das Erdreich, soweit für die
Ausübung des Eigentums ein Interesse besteht. Es umfasst unter Vorbehalt
der gesetzlichen Schranken alle Bauten und Pflanzen, sowie Quellen.
Der Grundeigentümer hat gemäss Art. 641 Abs. 2 ZGB u.a. das Recht, jede
ungerechtfertigte Einwirkung abzuwehren.

    Das Bundesgericht hat deshalb erklärt, niemand sei (etwa auf Grund
des Art. 699 ZGB) berechtigt, über fremdes Grundeigentum hinweggehende
Lawinen (vorsätzlich) auszulösen (BGE 96 II 177). Das trifft jedenfalls
dann zu, wenn die Lawine (abgesehen von der Gefährdung von Menschen)
Schaden anrichten kann. Es werden zwar jährlich Hunderte, wenn nicht
Tausende von Lawinen künstlich ausgelöst, meistens zur Sicherung von
Skipisten. Die betroffenen Grundeigentümer nehmen das in der Regel
stillschweigend hin und haben auch keinen Anlass, sich zur Wehr zu setzen,
solange es sich nicht um eine Einwirkung im Sinne des Art. 641 Abs. 2
ZGB handelt. Wer jedoch Lawinen sprengt, obwohl sie Schaden anrichten
können, handelt widerrechtlich; er verstösst gegen einen Grundsatz des
geschriebenen Rechtes (BGE 95 III 91 E. 6c, 93 II 183 E. 9, 88 II 281
E. 4b, 82 II 28 E. 1). Ziff. 1 der Regeln für den Lawinenabschuss, die
das SLF im WB 1950/51 S. 215 ff. veröffentlichte, besagt richtigerweise,
dass von der Sprengung abzusehen sei, wenn nicht Gewähr dafür bestehe,
dass kein namhafter Schaden angerichtet wird.

    b) Der Beklagte behauptet, die Sprengung der Gondalawine sei nötig
gewesen, um den Verkehr auf der Kantonsstrasse zu sichern. Er macht somit
geltend, es habe ein Notstand vorgelegen, der Porton berechtigte, in das
Grundeigentum der Klägerinnen einzugreifen. Nun verweist zwar Art. 21
VG auf die ergänzende Anwendung der Art. 41 ff. OR, macht also auch
dessen Art. 52 Abs. 2 über die Haftung bei Notstand zum stellvertretenden
kantonalen Recht. Der Eingriff in Grundstücke ist jedoch nicht in dieser
Bestimmung geregelt, da sie sich nur auf das Eingreifen in fremdes
Vermögen, also nur auf Mobiliareigentum bezieht (OSER/SCHÖNENBERGER,
Art. 52 OR N 28; HAAB, Art. 701 ZGB N 5; VON TUHR/SIEGWART, § 46 IV
Ziff. 7, S. 362). Da der Notstandsbegriff indessen einheitlich sein muss
und zudem eine Unterscheidung zwischen Mobilien und Grundstücken in dieser
Hinsicht der innern Begründung entbehrt (HAAB, Art. 701 ZGB N 4), liegt in
der mangelnden Verweisung des kantonalen Gesetzes auf Art. 701 ZGB eine
Erkenntnislücke, die nach der ratio legis auszufüllen ist. Das ruft nach
der Anwendung der für Grundstücke zutreffenden Bestimmung des Art. 701 ZGB.

Erwägung 3

    3.- Kann nach Art. 701 Abs. 1 ZGB jemand einen drohenden Schaden oder
eine gegenwärtige Gefahr nur dadurch von sich oder andern abwenden, dass er
in das Grundeigentum eines Dritten eingreift, so ist dieser verpflichtet,
den Eingriff zu dulden, sobald Gefahr und Schaden ungleich grösser sind
als die durch den Eingriff entstehende Beeinträchtigung. Den Beweis dafür,
dass ein Notstand in diesem Sinne vorlag, hat der Beklagte zu erbringen.

    a) Aus der Expertise ergibt sich, dass das Gelände von Muott'Auta -
Piz Chapisun - La Cudera - Laviner da Gonda infolge seiner Steilheit und
Lage sowie der Bodenbedeckung besonders gut geeignet ist zur Bildung von
grossen Lawinen, die bis in die Talsohle vorstossen können. Es handelt sich
dabei um die Lawinenzüge von Val Punia - Lavuors, Urezzas, Gonda, Laviner -
Val und Sur Salön. Am gefürchtetsten ist die Gondalawine, die viel häufiger
niedergeht als die andern und deren Wucht infolge der Kanalisierung im
Laviner da Gonda sehr gross ist. Ihre Zerstörungskraft vervielfältigt sich,
wenn sie sich mit der gleichzeitig fallenden Urezzaslawine vereinigt. Es
kommt auch vor, dass ein Teil der Gondalawine bei grosser Geschwindigkeit
die Runse bei etwa 2000 m Höhe verlässt und gegen Craista (Pt 1568) stürzt.

    Von den Lawinenniedergängen der letzten Jahre sind namentlich
erwähnenswert: Am 18. Januar 1951 fielen die Gonda- und Urezzas-Lawinen;
es entstanden Schäden an der Bahnlinie, der Kantonsstrasse und an Leitungen
für Telephon und Elektrizität. Am 20. Januar 1951 verursachte die Lawine
Laviner-Val Schäden am Wald, an einem Gebäude sowie an der Bahnlinie
und der Strasse. Am 20./21. März 1967 verschüttete die Gondalawine die
Geleise der Bahn und die Kantonsstrasse. Am 27. Januar 1968 erreichte
sie wiederum die Kantonsstrasse auf einer Breite von ca. 300 m.

    Durch den Niedergang der Gonda- und Urezzas-Lawine wird in erster
Linie der Verkehr auf der Kantonsstrasse schwer gefährdet. Die Rhätischen
Bahnen sind weniger bedroht, da die Linie auf einer Länge von ca. 400 m in
einem Tunnel verläuft. Der Eingang Seite Lavin befindet sich indessen bloss
ca. 100 m westlich des Pt 1489, sodass sie auf eine Strecke von ca. 300 m
den Einwirkungen der Val Punia- und Urezzas-Lawinen ausgesetzt ist. Seite
Giarsun droht Gefahr von der selten fallenden Lawine Laviner-Val, die
ebenfalls aus dem Einzugsgebiet der Gondalawine stammt.

    b) Bei unmittelbar drohender Lawinengefahr wird jeweils die
Kantonsstrasse für jeden Verkehr gesperrt. Da es sich aber um die einzige
Strassenverbindung des Engadins zwischen der schweizerisch-österreichschen
Grenze und den nach Süden und Norden führenden Passstrassen handelt,
lässt sich diese Sperre nicht während längerer Zeit durchführen, zumal da
der Kanton gesetzlich verpflichtet ist, die Strasse auch im Winter offen
zu halten und sich die betroffenen Gemeinden des Unterengadins wegen der
Beeinträchtigung des Fremdenverkehrs benachteiligt fühlen. Eine Umleitung
des Strassenverkehrs über Planturen bezeichnete der Experte vorerst als
"ohne weiteres" möglich. In der Tat führte Gemeindepräsident Brunold
im Schreiben vom 10. Oktober 1968 an das Baudepartement des Kantons
Graubünden aus, es stehe für die kritische Zeit von höchstens drei bis
vier Tagen eine 3,50 m breite neue Strasse auf der rechten Talseite
mit genügend Ausstellplätzen zur Verfügung; die Brücken hätten eine
Tragkraft von 16 t. Es handelt sich dabei um die in der Landeskarte teils
als unterhaltener Fahrweg, teils als Feldweg oder Saumweg eingetragene
Verbindung von Lavin nach Giarsun über den Weiler Plans, die seither zu
einer Strasse 3. Klasse ausgebaut worden ist. Ihre Lawinensicherheit ist
jedoch mehr als fragwürdig, schrieb doch der gleiche Gemeindepräsident
dem Bezirksbauamt am 7. August 1968 u.a. folgendes:

    "Die Wucht der eigentlichen Gondalawine ist enorm. Im Bruchteil einer
Minute erreicht sie schon den Wald auf der rechten Talseite, welcher gut
500 m vom Inn zurücksteht."

    Der Experte hat seine Auffassung im Ergänzungsgutachten etwas
abgeschwächt und erklärt, die Umleitung sei freilich nicht "ideal,
aber wohl das kleinere Übel als die grössere Lawinengefahr auf der
Staatsstrasse". Die von ihm erwähnte Tatsache, dass das im Jahre 1905
erstellte Schützenhaus vor dem 25. Februar 1970 durch Lawinen nie
beschädigt worden ist, bildet jedoch keinen sichern Beweis dafür, dass
früher nie eine Lawine den Weg von Planturen erreicht hat oder sogar
darüber hinaus vorgestossen ist. Aus den photographischen Aufnahmen über
den Niedergang der am 25. Februar ausgelösten Lawinen ist ersichtlich,
dass der Hauptstrom rechts vom Schützenhaus vorbeistösst. Dessen
erstmalige Beschädigung liesse sich mit der aussergewöhnlichen Wucht
und Grösse der Lawine erklären, die durch das Zusammenwirken der Gonda-
und Urezzas-Lawinen entstanden sind. Die vom Beklagten vorgelegten Bilder
der Umfahrungsstrasse zeigen ausserdem, dass die Strasse viele Engpässe
aufweist, die nur im Einbahnverkehr befahren werden können.

    c) Die dargelegten Umstände führen zum Schluss, dass sich bei länger
anhaltender akuter Lawinengefahr die künstliche Auslösung der Lawinen
von Gonda und Urezzas unter dem Gesichtspunkt des Art. 701 Abs. 1 ZGB
rechtfertigen lässt. Die anders nicht abwendbare Gefahr, dass bei einer
durch die Verkehrsbedürfnisse erzwungenen Öffnung der Strasse Menschenleben
vernichtet werden könnten, wiegt ungleich schwerer, als die von der Lawine
allenfalls bewirkten Sachschäden.

    Im weitern stellt sich aber die Frage, ob die Lage am 25. Februar
1970 derart war, dass sich die künstliche Auslösung der Lawine an diesem
Tage aufdrängte. Die Klägerinnen bestreiten es, und der Experte gibt
ihnen recht. Zwar geht er gestützt auf die Lawinenbulletins des SLF (WB
1969/70 S. 93) davon aus, dass am 24. Februar die grosse Lawinengefahr im
Unterengadin andauerte, und dass sich die Lage am 25. Februar, nachdem noch
weitere rund 20 cm Schnee gefallen waren, noch nicht wesentlich geändert
hatte, so dass der Verkehr auf der Linie der Rhätischen Bahnen und auf der
Kantonsstrasse durch den möglichen Niedergang einer Staublawine ernstlich
gefährdet blieb. Er weist indessen darauf hin, dass im Lawinenbulletin vom
25. Februar eine wesentliche Wetterbesserung vorausgesehen worden war, die
sich tatsächlich schon am Morgen dieses Tages ankündigte. Freilich bestand
nach der Meinung des Experten während ein bis zwei Tagen immer noch die
in diesem Bulletin erwähnte Gefahr, dass vereinzelte grosse Lawinen aus
nicht entladenen Einzugsgebieten bis in die Täler vorstossen konnten;
doch hätten die Exposition des Einzugsgebietes und die Wetterbesserung
vom 25. Februar 1970 eine rasche Abnahme der Lawinengefahr voraussehen
lassen. Ein Abschuss würde sich deshalb nur aufgedrängt haben, wenn
ein grosser Verkehr zu erwarten gewesen wäre oder wenn die Räthischen
Bahnen ihn verlangt hätten. Das Lawinenbulletin des SLF habe alsdann am
27. Februar erklärt, die Lawinengefahr sei auch in jenen Zonen entscheidend
zurückgegangen, in denen noch grössere Schneeansammlungen vorhanden waren;
umfangreiche, auf Verbindungen oder in bewohnte Gegenden vordringende
Lawinen seien kaum mehr zu erwarten.

    Der Beklagte stimmt diesen Schlussfolgerungen nicht zu und behauptet,
der gefallene Schnee habe sich lange Zeit nicht verfestigen können, so
dass sich noch nach Tagen oder Wochen ein Grossabsturz hätte ereignen
können. Der Experte hat diese Auffassung im Ergänzungsgutachten in
eingehenden Ausführungen schlüssig widerlegt.

    Objektiv und rückblickend betrachtet, hat deshalb Porton voreilig
gehandelt. Es hätte genügt, die Sperre der Kantonsstrasse noch ein
bis zwei Tage aufrecht zu erhalten, statt mit der Sprengung der Lawine
Schäden zu verursachen, deren Umfang nach Ansicht des Experten zum voraus
nicht leicht einzuschätzen war. Sein Vorgehen lässt sich somit durch das
Bestehen eines Notstandes nicht rechtfertigen.

Erwägung 4

    4.- Porton ist indessen zuzubilligen, dass er sich in einem
entschuldbaren Irrtum befand. Er hatte die Strasse schon am 21. Februar
sperren müssen. In den nächsten Tagen schneite es weiter. Auch vom 24. auf
den 25. Februar fielen noch einmal rund 20 cm Schnee. Ob die vom SLF
vorausgesagte Wetterbesserung anhalten werde, konnte damals nicht mit
Sicherheit angenommen werden. Anderseits durfte die Kantonsstrasse nicht
weiterhin auf unbestimmte Zeit gesperrt bleiben. Porton befand sich somit
in einer Zwangslage, die ihn veranlasste, mehr Gewicht auf den Teil des
Lawinenbulletins für den 25. Februar zu legen, der gegenüber dem Vortag
keine wesentliche Änderung voraussagte, sodass - entsprechend dem Bulletin
vom 24. Februar - mit umfangreichen und selten auftretenden Lawinen zu
rechnen war (tags zuvor hatte eine Lawine in Reckingen an einem Ort, wo
niemand sie erwartet hätte, 30 Menschen das Leben gekostet). Obwohl Porton
Lawinensprengkurse besucht und schon mehrmals Sprengungen vorgenommen hatte
(z.B. am Morgen des 25. Februar in Samnaun) war er verständlicherweise
nicht in der Lage, alle die Überlegungen anzustellen, die der über
grösseres Fachwissen verfügende Experte nachträglich gemacht hat.

Erwägung 5

    5.- Wer bloss in vermeintlicher Notlage infolge eines entschuldbaren
Irrtums fremdes Eigentum verletzt, handelt objektiv widerrechtlich, und
haftet somit dem Grundsatze nach gemäss Art. 41 OR (OSER/SCHÖNENBERGER,
Art. 52 N 36; LEEMANN, N 18 und HAAB N 13 zu Art. 701 ZGB; VON
TUHR/SIEGWART, § 46 IV Ziff. 7 S. 362; TRÜEB, Notwehr und Notstand,
Diss. Zürich 1924, S. 68). Er soll deshalb nicht besser, aber in der Regel
auch nicht schlechter gestellt sein als derjenige, der in wirklichem
Notstand gehandelt hat. Das führt bei der Schadenersatzbemessung zu
analoger Anwendung der Vorschriften, die für den Notstand gelten, hier
also des Art. 701 ZGB.

    Nach dieser Bestimmung kommt es nur darauf an, ob der Haftbare
vorsätzlich in das Eigentum eines Dritten eingegriffen und dadurch Schaden
verursacht hat. Nicht erforderlich ist, dass er den Schaden gewollt hat
oder dass er ihn hätte voraussehen können. Seine Haftung entfällt nur,
wenn zwischen dem Eingriff und dem damit angerichteten Schaden nach dem
gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen Erfahrung kein adäquater
Kausalzusammenhang besteht. Das trifft im vorliegenden Fall nicht zu. Es
ist - wie der Experte dargelegt hat - eine Erfahrungstatsache, dass
die Wirkung künstlich ausgelöster Lawinen schwierig abzuschätzen ist,
namentlich bei einer erstmaligen Sprengung (vgl. auch BGE 96 II 172
ff.). Abgesehen hievon, haben auch die spontan gefallenen Lawinen von
Urezzas und Gonda stets Schäden, wenn auch minder bedeutende angerichtet,
wenn sie über die Bahnlinie und die Kantonsstrasse hinaus drangen. Nach dem
Gutachten kann nicht angenommen werden, dass die Lawinen am 25. Februar
oder später spontan niedergegangen wären. Jedenfalls aber hätten sie
dann bedeutend weniger Sachschaden verursacht. Bezeichnend ist in dieser
Hinsicht der Umstand, dass das im Jahre 1905 erbaute Schützenhaus erstmals
am 25. Februar 1970 durch Lawinen zerstört wurde, während für frühere
Jahre keine wesentlichen Beschädigungen nachgewiesen sind.

Erwägung 6

    6.- Der Beklagte haftet somit grundsätzlich für den verursachten
Schaden. Art. 701 Abs. 2 ZGB stellt die Bemessung des Ersatzes in
das richterliche Ermessen. Dabei haben die Art. 43 Abs. 1 und 44 OR als
Wegleitung zu dienen (HAAB, Art. 701 ZGB N 11). Im vorliegenden Fall sind
folgende Umstände zu berücksichtigen:

    a) Gemäss § 148 des Bünder EG zum ZGB gehört der Boden, der keinen
andern Eigentümer hat, der Territorialgemeinde. Die vermeintliche Gefahr,
welcher Porton begegnen wollte, ging somit von den Grundstücken der
Klägerinnen aus. Die Notstandshandlung Portons trägt deshalb den Charakter
der Sachwehr, die in der Regel zu einer Milderung der Ersatzpflicht oder
sogar zur Befreiung führt (HAAB, aaO). Demgegenüber ist jedoch zu bedenken,
dass die Klägerinnen die Gefahr nicht verursacht haben und dass sie auch
nicht verpflichtet waren, sie zu beseitigen (vgl. BGE 93 II 230 ff.).

    b) Dass die Gemeinde Lavin sich hartnäckig geweigert hatte,
dem Beklagten die Bewilligung zum Bau einer Lawinenwarnanlage zu
erteilen, belastet sie nicht erheblich. Der Beklagte hatte zwar
richtigerweise neben der von der ASEGA projektierten Warnanlage, die
nur den Niedergang der Gondalawine erfasst hätte, noch den Abschuss
der Urezzaslawine mit Minenwerfer vom nördlichen Dorfrand von Lavin aus
vorgesehen. Auch erwies sich der Standpunkt der Gemeinde Lavin, wonach
die Warnanlage überflüssig sei, weil beide Lawinen aus Stellungen
einerseits bei der ersten Strassenkurve unterhalb Guarda (Pt 1581
Gondalawine) und anderseits bei Charnadüras (Pt 1731,6, Urezzaslawine)
mit Minenwerfern ausgelöst werden könnten, als unzutreffend; er wurde
widerlegt durch den Bericht des SLF vom 1. September 1969 und des
Untersektorchefs Engadin der Festungswachtkompanie 12, Hptm. Amiet,
vom 31. Januar 1966. Den Erwägungen und Schlussfolgerungen des Experten
ist jedoch zu entnehmen, dass die vom Beklagten vorgesehenen Massnahmen
(Warnanlage kombiniert mit Minenwerferabschuss) gerade bei ungünstigen
Verhältnissen (bei langandauerndem Schneefall, Nebel oder Sturm) wegen
fehlender Beobachtungsmöglichkeit nur ungenügenden Schutz hätten bieten
können. Sie hätten somit unter Umständen gerade dann versagt, wenn nach
den Klägerinnen die Gefahr eines Lawinenniederganges am ausgeprägtesten
ist, nämlich während oder unmittelbar nach anhaltendem Schneefall.

    c) Auch wenn man die damals bestehenden Spannungen zwischen den
Behörden der Gemeinde Lavin und dem Beklagten berücksichtigt, war es
doch nicht richtig, dass Porton vor der Sprengung keine Verbindung mit
den Gemeindebehörden aufnahm. Es ist eine Erfahrungstatsache, dass die
Bewohner von lawinengefährdeten Gebieten auf Grund langer Erfahrung mit
ziemlicher Sicherheit voraussagen können, unter welchen Umständen die
bekannten regelmässig fallenden Lawinen niedergehen. So ist der damalige
Gemeindepräsident, Brunold, der seit 1933 in Lavin als Lehrer tätig war,
der Auffassung, dass sowohl am 4. Februar, als Porton einen Sprengversuch
unternahm, als auch am 25. Februar keine unmittelbare Lawinengefahr
bestand, da nach seiner Erfahrung die Gondalawine nur bei oder unmittelbar
nach grössern Schneefällen niedergeht. Auch hätte er Porton vielleicht
darauf aufmerksam gemacht, das auf Grund der örtlichen Verhältnisse
Sekundärlawinen ausgelöst werden könnten (namentlich die Urezzaslawine),
eine Überlegung, die Porton übrigens auch selber hätte machen können
(so auch der Zeuge Schild vom SLF). Seine gegenteilige Auffassung zeigt,
dass er doch nicht genügend mit den örtlichen Verhältnissen vertraut
war. Sodann wäre eine Überschlagsrechnung über die zu erwartende Masse,
wie sie vom Experten gemacht wurde, angezeigt gewesen. Auch wenn es sich
dabei nur um eine grobe Schätzung gehandelt hätte, wären Porton vielleicht
angesichts des Resultates (ca. 1 Million m3) Bedenken gekommen.

    d) Nach Ansicht des Experten wäre zudem ein etappenweises Vorgehen
angezeigt gewesen, indem z.B. zuerst hätte versucht werden sollen,
die Urezzaslawine und nachher die Gondalawine unterhalb des Kessels
von la Cudera zu lösen (diesbezüglich ist erwähnenswert, dass alt
Gemeindepräsident Brunold der Auffassung ist, das gewöhnliche Anrissgebiet
der Gondalawine befinde sich nicht am Grat, wo die Sprengung stattfand,
sondern unterhalb des erwähnten Kessels).

    e) Nicht berechtigt sind die Vorwürfe der Klägerinnen, Porton sei nicht
in der Lage gewesen, die Lawinengefahr im allgemeinen zu beurteilen,
und er habe es unterlassen, vor der Sprengung die erforderlichen
Sicherheitsmassnahmen zu treffen.

    Porton ist seit 1963 Beamter des Kantons Graubünden. Zuerst war er
Angestellter des Bezirkstiefbauamtes VII in Thusis. Auf 1. Januar 1965
wurde er vom Kleinen Rat zum Stellvertreter des damaligen Leiters des
Bezirkstiefbauamtes Schuls gewählt; seit 20. Dezember 1965 ist er dessen
Leiter. Er besuchte 1966 einen Schnee- und Lawinenbeobachtungskurs des SLF,
1967 einen internationalen und 1968 den allgemeinen Lawinenrettungskurs,
ferner 1968 und 1969 je einen Lawinensprengkurs.

    Am 25. Februar stellte er auf der Kantonsstrasse Warnposten auf
(die Wegmacher Bulfoni und Toms) und orientierte auch die Organe
der Rhätischen Bahnen über die bevorstehende Sprengung. Während des
Helikopteraufstiegs überzeugte er sich davon, dass sich keine Personen
im gefährdeten Gebiet befanden. Es war auch dafür gesorgt worden, dass
die Kinder einer Ferienkolonie sich nicht zum Skifahren auf den Hang bei
Prasüras begaben, wo sie sonst übten. Da die Kantonsstrasse überhaupt
wegen Lawinengefahr gesperrt war, konnte auch nicht angenommen werden,
dass sich Waldarbeiter, die vom Helikopter aus nicht gesehen werden
konnten, im gefährdeten Gebiet befanden.

    f) Endlich darf nicht ausser acht gelassen werden, dass Porton
öffentliche Interessen, nämlich die Sicherheit des Bahn- und
Strassenverkehrs, wahrnehmen wollte.

    Im Abwägung aller Umstände erscheint es angemessen, den Beklagten
nur zum Ersatze der Hälfte des Schadens zu verpflichten.

Erwägung 7

    7.- a) Die Gemeinde Lavin hat eingesehen, dass sie mangels einer
förmlichen Abtretung nicht befugt ist, die Schadenersatzforderung des
Schützenvereins Lavin für die zerstörte Schiesshütte geltend zu machen;
sie hat demzufolge diesen Anspruch fallen gelassen. Von der ursprünglich
eingeklagten Schadenersatzforderung der Gemeinde Lavin sind deshalb
abzuziehen: Die Forderung des Schützenvereins Lavin von Fr. 18 832.50
sowie die in der Klagebegründung irrtümlich doppelt berechnete Forderung
für Arven östlich des Lawinenzuges von Fr. 8000.--, total Fr. 26 832.50.

    Den übrigen, von der Gemeinde Lavin geltend gemachten Schaden
bestreitet der Beklagte der Höhe nach nicht mehr. Er beträgt somit
Fr. 74 624.85 (eingeklagt Fr. 101 457.35 abzüglich Fr. 26 832.50, wie
dargelegt). Davon hat der Beklagte die Hälfte mit Fr. 37 312.40 der
Gemeinde zu ersetzen.

    b) Die Gemeinde Guarda hat insgesamt einen Schaden von Fr. 28
400.50 eingeklagt (Waldschaden Fr. 7800.--, Weideräumungen Fr. 4424.50,
Hirtenhütte Fr. 15 400.--, Kreisamtkosten Fr. 776.--). Da sie von der
kantonalen Gebäudeversicherung für die zerstörte Hirtenhütte entschädigt
worden ist, verlangt sie nur noch den Ersatz des ihr auferlegten
Selbstbehalts von Fr. 216.--. Den verbleibenden Schaden (Fr. 28 400.50
abzüglich Fr. 15 400.-- plus Fr. 216.--) von Fr. 13 216.50 bestreitet
der Beklagte nicht. Er hat somit der Gemeinde die Hälfte mit Fr. 6608.25
zu ersetzen.

    c) Auf den geschuldeten Beträgen hat der Beklagte 5% Schadenszins seit
25. Februar 1970 zu entrichten, wie es von den Klägerinnen verlangt wurde.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    In teilweiser Gutheissung der Klagen wird der Beklagte zur Zahlung
folgender Beträge verpflichtet:

    a) gegenüber der Gemeinde Lavin von Fr. 37 312.40 nebst 5% Zins seit
25. Februar 1970,

    b) gegenüber der Gemeinde Guarda von Fr. 6608.25 nebst 5% Zins seit
25. Februar 1970.

    Soweit weitergehend, werden die Klagen abgewiesen.