Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 III 3



100 III 3

2. Auszug aus dem Entscheid vom 26. März 1974 i.S. ILB. Regeste

    Zustellung von eingeschriebenen Sendungen an Postfachinhaber.

    Eine an einen Postfachinhaber adressierte eingeschriebene Sendung ist
erst in jenem Zeitpunkt als zugestellt zu betrachten, in welchem sie am
Postschalter abgeholt wird. Geschieht dies nicht innert der Abholungsfrist,
so gilt die Zustellung als am letzten Tag dieser Frist erfolgt (Anderung
der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    D. rekurrierte gegen einen Entscheid des Bezirksgerichts Zürich
an das Obergericht des Kantons Zürich als obere Aufsichtsbehörde über
Schuldbetreibung und Konkurs. Hinsichtlich der Frage der Einhaltung
der Rekursfrist stellte das Obergericht fest, der erstinstanzliche
Entscheid sei D. am 4. Juli 1973 als eingeschriebene Sendung an
dessen Postfachadresse zugestellt und diesem sei gleichentags eine
Abholungseinladung ins Postfach gelegt worden. D. habe die Sendung
indessen erst am 11. Juli 1973 am Postschalter abgeholt und seinen
Rekurs am 19. Juli 1973 der Post übergeben. Trotzdem sei der Rekurs
als rechtzeitig zu betrachten, da D. die eingeschriebene Sendung innert
sieben Tagen am Postschalter in Empfang genommen habe und die zehntägige
Rekursfrist in einem solchen Falle richtigerweise auch beim Postfachinhaber
erst mit der Abholung der Sendung zu laufen beginne. Das Obergericht trat
deshalb auf den Rekurs ein.

    Gegen den obergerichtlichen Entscheid erhob die ILB Rekurs an die
Schuldbetreibungs- und Konkurskammer des Bundesgerichts mit der Begründung,
nach ständiger bundesgerichtlicher Rechtsprechung müsse davon ausgegangen
werden, der bezirksgerichtliche Entscheid sei D. bereits in jenem Zeitpunkt
rechtsgültig zugestellt worden, in welchem die Abholungseinladung in
sein Postfach gelegt worden sei; die zehntägige Weiterzugsfrist sei somit
schon abgelaufen gewesen, als er seinen Rekurs an die Vorinstanz der Post
übergeben habe.

Auszug aus den Erwägungen:

                       Aus den Erwägungen:

Erwägung 2

    2.- Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, ob die Zustellung
des erstinstanzlichen Entscheides bereits dadurch als erfolgt zu betrachten
sei, dass die Abholungseinladung in das Postfach des Rekursgegners gelegt
wurde, oder erst dadurch, dass dieser die eingeschriebene Sendung am
11. Juli 1973, also noch innert der siebentägigen Abholungsfrist gemäss
Art. 169 Abs. 1 lit. e der Verordnung (1) zum Postverkehrsgesetz vom
1. September 1967 (V I zum PVG; SR 783.01), am Postschalter in Empfang
nahm. Im ersten Fall war der Rekurs verspätet, und zwar unabhängig davon,
ob die Abholungseinladung schon am 4. Juli 1973 in das Postfach ge-. legt
wurde, wie die Vorinstanz annahm, oder erst am 5. Juli 1973, wie der
Rekursgegner in seiner Vernehmlassung zum Rekurs ausführt. Im zweiten
Fall wurde der Rekurs an die Vorinstanz rechtzeitig eingereicht.

    Das Bundesgericht betrachtete bisher eine eingeschriebene Sendung,
die sich an den Inhaber eines Postfaches richtet, als zugestellt, sobald
die Abholungseinladung in das Postfach gelegt wird, sofern dies vor
Schalterschluss geschieht und der Postfachmhaber damit die Möglichkeit
erhält, die Sendung noch am gleichen Tag am Postschalter in Empfang
zu nehmen. Diese Rechtsprechung reicht zeitlich weit zurück und wurde
anfänglich nicht näher begründet (BGE 46 I 63; 55 III 170; 61 II 134;
74 I 15/16). Eine Begründung findet sich erstmals im Entscheid 74 I
89, wo folgendes ausgeführt wird: "Mais, en prenant une case postale,
le destinataire indique luimême l'endroit où toutes les communications
postales peuvent lui être valablement remises; le dépôt peut dès lors être
assimilé à la notification ou remise au destinataire lui-même." An dieser
Rechtsprechung ist in der Folge bis in die jüngste Zeit festgehalten worden
(BGE 78 I 325 Erw. 2; 83 III 96/97, 92 I 19 ff., 97 I 98 ff., 98 I a 138
Erw. 3). Ihre eingehendste Begründung fand sie bisher in BGE 97 I 99 f. In
diesem Entscheid führte das Bundesgericht aus, der Postfachinhaber geniesse
gegenüber dem Postkunden gewisse Vorteile: Die Zustellung erfolge rasch,
da keine Botengänge notwendig seien; weiter werde dem Kunden ermöglicht,
mehrmals täglich (auch ausserhalb der Schalteröffnungszeiten) Sendungen
in Empfang zu nehmen. Mit der Miete eines Postfachs gebe der Kunde
seine Absicht bekannt, die für ihn bestimmten Sendungen zu dem ihm
genehmen Zeitpunkt abholen zu wollen. Wer über ein Postfach verfüge,
anerkenne somit, dass ihm die für die Fachbedienung bestimmten Sendungen
grundsätzlich jederzeit gültig durch Einlage ins Postfach zugestellt werden
könnten; die Einlage trete daher gleichsam an die Stelle der Zustellung
durch tatsächliche Aushändigung bzw. Einwurf in den Briefkasten.

    Die angeführte Rechtsprechung steht im Gegensatz zu jener, die in
bezug auf die Zustellung eingeschriebener Sendungen an Briefkasteninhaber
entwickelt worden ist. Eine solche Sendung gilt, falls der Adressat nicht
angetroffen und daher eine Abholungseinladung in seinen Briefkasten gelegt
worden ist, in jenem Zeitpunkt als zugestellt, in welchem sie auf der
Post abgeholt wird; geschieht dies nicht innert der Abholungsfrist, so
gilt die Sendung als am letzten Tag dieser heute sieben Tage betragenden
Frist zugestellt (BGE 74 I 88; 80 IV 204; 83 III 95/96; 85 IV 116; 91 II
151/152; 97 III 10; 98 I a 136 Erw. 1 und 138/139 Erw. 4).

Erwägung 3

    3.- Es fragt sich, ob die unterschiedliche Behandlung des
Postfachinhabers und des Inhabers eines Briefkastens sachlich wirklich
gerechtfertigt sei. Das Bundesgericht hat sich in seiner bisherigen
Rechtsprechung vom Gedanken leiten lassen, dass mit der Miete eines
Postfaches eine Art Spezialzustelldomizil bei der Post begründet
werde. Diese Auffassung erscheint als zutreffend, was Institutionen oder
Geschäftsfirmen anbetrifft, die ihr Postfach täglich mindestens einmal
oder mehrmals leeren lassen. Bei Privaten hingegen, die unter Umständen
nur deshalb ein Postfach gemietet haben, weil sie über keinen eigenen
Briefkasten verfügen, verliert die unterschiedliche Behandlung ihre
innere Rechtfertigung; für diese Kategorie von Postfachinhabern stellt das
Postfach nichts anderes dar als "une boîte aux lettres (privée) accrochée
à un bureau de poste", wie sich JEANPRETRE in kritischer Würdigung der
bundesgerichtlichen Rechtsprechung ausdrückt (SJZ 1973 S. 352, 2. Spalte
vor Ziff. 6).

    Nach dem Bericht der Generaldirektion der PTT ist unter den
Postfachinhabern die Zahl der Behörden, Institutionen, Firmen, Vereine,
etc. zur Zeit noch bedeutend grösser als jene der Privaten; zudem werden
die Postfächer mit ganz wenigen, nicht ins Gewicht fallenden Ausnahmen
täglich mindestens einmal geleert. Diese Angaben sprechen eher für die
Beibehaltung der bisherigen Praxis. Andrerseits ist nach dem gleichen
Bericht damit zu rechnen, dass die Postzustellung mittels Postfach in den
nächsten Jahren vielerorts und in grossem Stil jene der herkömmlichen
Art durch Briefträger ersetzen wird. Dementsprechend hat der Bundesrat
am 4. März 1974 die V I zum PVG abgeändert (AS 1974 S. 578 ff.). Der
revidierte Art. 156 Abs. 6 der Verordnung sieht vor, dass in Zukunft
ganze Quartiere durch zentrale Postfachanlagen bedient werden können:

    "In neuen, ausnahmsweise auch in bestehenden Grossüberbauungen
(Hochhäuserquartieren, geschlossen überbauten Wohn- oder
Geschäftsquartieren, Zentrumsüberbauungen u. dgl.) können die PTT-Betriebe
die Zustellung der uneingeschriebenen Brief- und Paketsendungen durch
auf Kosten der Hauseigentümer zu erstellende zentrale Brief- und
Ablagekastenanlagen oder durch Postfachanlagen anordnen. Bei dieser
Zustellart können eingeschriebene Brief-und Paketpostsendungen,
Wertsendungen, Anweisungsbeträge und Betreibungsurkunden, ferner
uneingeschriebene Brief- und Paketpostsendungen, die mit Nachnahme oder
Taxen belastet sind oder ihres Umfanges wegen nicht in die Ablagekästen
oder Postfächer gelegt werden können, dem Empfänger zur Abholung bei der
nächstgelegenen Post- oder Ausgabestelle gemeldet werden, sofern sich
diese innerhalb der Grossüberbauung befindet."

    Es muss daher davon ausgegangen werden, dass die Postzustellung
durch Postfächer gegenüber jener durch Briefboten in Zukunft eine
immer grössere Bedeutung erlangen wird. Immer mehr Leute werden somit
gezwungen sein, ein Postfach zu benützen, obwohl sie es vielleicht
vorziehen würden, sich die Postsendungen weiterhin an ihr Domizil
zustellen zu lassen. Die der bisherigen Rechtsprechung zugrunde liegende
Annahme, dass der Postfachinhaber diese Art der Zustellung um bestimmter
Vorteile willen selber gewählt habe, lässt sich daher in Kürze nicht mehr
aufrechterhalten. Es werden sich zufolge dieser Entwicklung zwangsläufig
auch die Fälle häufen, in denen es einem privaten Postfachinhaber zu
geWissen Zeiten nicht möglich sein wird, sein Postfach regelmässig zu
leeren, z.B. weil er für wenige Tage ortsabwesend ist, ohne sich die Post
nachschicken lassen zu können. Mit Rücksicht auf diese Fälle kann nicht
mehr an der Fiktion festgehalten werden, eine eingeschriebene Sendung gelte
dann als zugestellt, wenn die (erste) Abholungseinladung in das Postfach
gelegt werde. Es ist nicht einzusehen, weshalb diesen Postfachinhabern
gegenüber etwas anderes gelten soll als gegenüber den Inhabern von
Briefkästen, obwohl durchaus vergleichbare Verhältnisse vorliegen.

    Gegen diese Lösung kann nicht eingewendet werden, sie führe zu
Missbräuchen, weil der Postfachinhaber es auf diese Weise in der Hand
habe, den Fristbeginn bis zu sieben Tagen hinauszuzögern. Aus dem Bericht
der Generaldirektion der PTT geht hervor, dass der Postfachinhaber der
Abholungseinladung nicht entnehmen kann, wer die eingeschriebene Sendung
aufgegeben hat. Insbesondere aber besteht die gleiche Möglichkeit auch für
den Empfänger eingeschriebener Sendungen, der sich die Abholungseinladung
in den Briefkasten legen lässt. Hat die Gerichtspraxis dort die Möglichkeit
missbräuchlichen Verhaltens in Kauf genommen, so ist nicht einzusehen,
weshalb für den Postfachinhaber, der der PTT die Arbeit der Hauszustellung
abnimmt, eine strengere Regelung gelten soll.

    Schliesslich kann es auch nicht in Frage kommen, die bisherige
Rechtsprechung für jene Postfachinhaber beizubehalten, die wie
Unternehmungen über die personellen Möglichkeiten verfügen, ihr Postfach
regelmässig einmal täglich leeren zu lassen, und nur die übrigen den
Briefkasteninhabern gleichzustellen. Abgesehen davon, dass das zu
kaum lösbaren Abgrenzungsschwierigkeiten führen müsste, verlangen die
Rechtssicherheit und der Grundsatz rechtsgleicher Behandlung, dass die
Regeln über die Zustellung gerichtlicher Sendungen durch die Post möglichst
klar, einfach und vor allem einheitlich gehandhabt werden.

    Aus diesen Gründen ist in Abweichung von der bisherigen Praxis davon
auszugehen, auch eine an einen Postfachinhaber adressierte eingeschriebene
Sendung sei erst in jenem Zeitpunkt als zugestellt zu betrachten, in
welchem sie am Postschalter abgeholt wird; geschieht dies nicht innert
der Abholungsfrist, so gilt die Zustellung als am letzten Tag dieser
Frist erfolgt.

    Sämtliche Abteilungen des Bundesgerichts, eingeschlossen das
Eidgenössische Versicherungsgericht, haben dieser Änderung der
Rechtsprechung zugestimmt (Art. 16, 127 Abs. 2 OG).