Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 IB 79



100 Ib 79

14. Urteil vom 8. Mai 1974 i.S. Wyttenbach gegen Zug, Kanton und
Regierungsrat. Regeste

    Art. 30 ff. NSG; Verhältnis zwischen Landumlegungs- und
Enteignungsverfahren.

    Der Grundeigentümer darf, gestützt auf Art. 23 der VV zum NSG vom
24. März 1964, die Einleitung des Enteignungsverfahrens verlangen,
wenn er seine Entschädigungsansprüche gegenüber dem Kanton nicht im
Rahmen der Landumlegung geltend machen kann oder wenn das kantonale
Recht keine Bestimmungen enthält, die den Grundsätzen von Art. 19 EntG
entsprechen. (Bestätigung der Rechtsprechung).

Sachverhalt

    A.- In Anwendung von Art. 36 des Nationalstrassengesetzes (NSG) und
von § 10 des kantonalen Meliorationsgesetzes vom 27. Oktober 1960 (MelG)
hat der Regierungsrat des Kantons Zug am 4. April 1966 die Begründung des
Unternehmens "Gesamtmelioration Ennetsee" mit dem Zwecke des für den Bau
der Nationalstrassen N 4 und N 14 in den Gemeinden Risch, Hünenberg und
Cham erforderlichen Landerwerbs angeordnet. Entsprechend § 10 Abs. 2 MelG
wurde die Leitung des Unternehmens einer Ausführungskommission übertragen,
deren Befugnisse und Organisation in einem Reglement des Regierungsrates
vom 4. April 1966 festgelegt wurden. Das Meliorationsgesetz wurde vom
Regierungsrat durch eine Vollziehungsverordnung vom 19. Oktober 1964,
die sog. Bodenverbesserungsverordnung, ergänzt.

    B.- Landwirt Walter Wyttenbach ist Eigentümer des in Holzhäusern
gelegenen Katharinenhofes, der innerhalb des Perimeters der Melioration
liegt. Die obgenannte Ausführungskommission führte vom 17. November bis
1. Dezember 1969 das Auflageverfahren durch. Nach dem Neuzuteilungsentwurf
hatte Wyttenbach namentlich seine Parzelle Nr. 486 jenseits der Strasse
Holzhäusern-Buonas - enthaltend eine alte Scheune, eine Sennhütte (Remise)
und eine Quelle - abzutreten gegen neues Land diesseits der Strasse,
wo sich das Bauernhaus und der Hauptteil des Hofes befinden. Der Hof
veränderte sich letztlich von 279 799 m2 (Fr. 198 332.--) auf 283 480 m2
(Fr. 198 191.--), die Schätzung offenbar ohne Einbezug des Wertes von
Gebäuden und Quelle.

    Wyttenbach erhob gegen den Neuzuteilungsentwurf Einsprache
und verlangte für die Scheune und Remise auf Parzelle Nr. 486 eine
Entschädigung, die er 1971 auf Fr. 172 000.-- bezifferte. Gestützt auf
einen von der kantonalen Liegenschaftsschätzungskommission ermittelten
Ertragswert von Fr. 23 000.-- bot ihm die Ausführungskommission am
11. Januar 1972 eine Entschädigung von Fr. 27 000.-- an, die sie am
16. Mai 1972 auf Fr. 40 000.-- erhöhte. Wyttenbach beantragte darauf vor
der kantonalen Bodenverbesserungskommission, es sei zur Festsetzung seiner
Entschädigungsansprüche das Enteignungsverfahren einzuleiten; eventuell
sei ihm eine Entschädigung von Fr. 202 000.-- (inbegriffen Fr. 30 000.--
für die Quelle) zuzusprechen. Von dieser Kommission abgewiesen, stellte
er mit Beschwerde beim Regierungsrat des Kantons Zug dieselben Anträge
und verlangte zudem einen Zins von 5% seit Besitzesantritt.

    Mit Entscheid vom 24. September 1973 wies der Regierungsrat die
Beschwerde ab, wobei er seine Kognition gemäss § 15 Abs. 4 MelG und §
30 der Bodenverbesserungsverordnung auf Rechtsverletzung und Willkür
beschränkte. Unter Bezug auf BGE 97 I 717 f. erwog er, dass das kantonale
Recht die Ausführungskommission ermächtige, die im vorliegenden Fall
verlangten Entschädigungen im Rahmen des Landumlegungsverfahrens
zu beurteilen; die Voraussetzungen zur Anwendung von § 10 Abs. 5
MelG seien nicht gegeben. Bezüglich des Betrages der Entschädigung
hielt der Regierungsrat fest, die von der Ausführungskommission und
der Bodenverbesserungskommission vorgenommenen Schätzungen der beiden
fraglichen Gebäude seien nicht willkürlich. Das Begehren um Entschädigung
für die Quelle prüfte er wegen Verspätung nicht.

    C.- Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde verlangt Wyttenbach unter
Bezug auf Art. 23 der Vollziehungsverordnung zum NSG (VV-NSG) sowie §
10 Abs. 5 MelG die Aufhebung des regierungsrätlichen Entscheides und die
Einleitung des Enteignungsverfahrens; eventuell sei der Kanton Zug zur
Bezahlung der vor dem Regierungsrat verlangten Entschädigung nebst Zins
zu 5% seit Besitzeinweisung zu verurteilen. Die Begründung ergibt sich,
soweit erforderlich, aus den Erwägungen. - Die Baudirektion des Kantons
Zug beantragt die Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Beschwerde ist form- und fristgerecht eingereicht. Sie ist,
da die Verweigerung der Einleitung eines Enteignungsverfahrens durch
den Regierungsrat eine letztinstanzliche kantonale, sich auf Bundesrecht
stützende Verfügung darstellt (Art. 97 Abs. 1 und Art. 98 lit. g OG) und
da keine Ausnahme nach Art. 99 bis 102 OG vorliegt, in ihrem Hauptantrag
als Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässig.

    Dies ist beim Eventualantrag, der das Bundesgericht um Überprüfung des
von den kantonalen Behörden angebotenen Entschädigungsbetrages ersucht,
nicht der Fall. Diese Entschädigung ist nämlich nach kantonalem Recht
bestimmt worden - wie es geboten ist, wenn kein Anlass besteht, kraft
Art. 23 VV-NSG das Enteignungsverfahren einzuleiten. Diesbezüglich hätte
also der regierungsrätliche Entscheid nur mit staatsrechtlicher Beschwerde
angefochten werden können (BGE 97 I 718 oben). Wenn infolge Abweisung des
Hauptbegehrens auf den Eventualantrag eingetreten werden müsste, könnte
die vorliegende Beschwerde nur als staatsrechtliche Beschwerde behandelt
werden. Dies wäre durch eine Umwandlung möglich, erübrigt sich hier aber,
weil der Hauptantrag gutzuheissen ist.

Erwägung 2

    2.- Art. 30 Abs. 1 NSG lässt den zur Landbeschaffung verpflichteten
Kantonen grundsätzlich die Wahl zwischen dem Landumlegungs- und dem
Enteignungsverfahren, sofern ein freihändiger Erwerb ausser Betracht
fällt; Art. 30 Abs. 2 NSG räumt der Landumlegung allerdings einen gewissen
Vorrang ein. Die Landumlegung untersteht grundsätzlich dem kantonalen
Recht - unter Vorbehalt der Vorschriften von Art. 31 Abs. 2 NSG. Das
Enteignungsverfahren unterliegt dagegen kraft Art. 39 NSG Bundesrecht. Wenn
der Kanton sich für das Landumlegungsverfahren entschliesst, so können
doch enteignungsähnliche Tatbestände entstehen, namentlich wo Abzüge
von dem im Verfahren erfassten Grundeigentum vorgenommen werden müssen
(Art. 31 Abs. 2 lit. b NSG) oder wo ein Gebäude zu entfernen ist. Aus
diesem Grunde ermächtigt Art. 21 VV-NSG die Kantone, für die Schätzung des
Verkehrswertes die Anwendung des eidg. Enteignungsgesetzes vorzuschreiben
und aus dem gleichen Grunde verlangt Art. 23 VV-NSG die Einleitung des
Enteignungsverfahrens von Amtes wegen oder auf Antrag des Grundeigentümers,
wenn das Landumlegungsverfahren dessen berechtigten Ersatzansprüchen
offensichtlich nicht zu genügen vermag.

    Bei den aufgeführten Bestimmungen ist die Abgrenzung des
Anwendungsgebietes von Bundes- und kantonalem Recht heikel. Im Jahre
1971 hat sich das Bundesgericht dreimal mit diesem Problemkreis befasst
und dazu stufenweise eine Praxis entwickelt (vgl. BGE 97 I 181 ff., 717
f., 721 ff). In BGE 97 I 721 f. wurde insbesondere ausgeführt, dass
in jenen Fällen, wo es sich nicht um unbebautes Land handelt, sondern
wo wegen des Nationalstrassenbaus Gebäude beseitigt werden müssen, das
Landumlegungsverfahren dem betroffenen Eigentümer oft nicht den gleichen
Schutz biete wie das Enteignungsverfahren; das Landumlegungsverfahren sei
aber dennoch anwendbar, sofern die kantonalen Bestimmungen die Beseitigung
von Gebäuden ausdrücklich vorsähen und die Bemessung der entsprechenden
Entschädigungsansprüche sowie das Verfahren hiezu klar und vollständig
regelten.

    In einem neueren Entscheid (BGE 99 Ia 498 ff. Erw. 4 c) hat das
Bundesgericht die bisherige Praxis zusammengefasst und verdeutlicht. Es
erklärt hier, dass die in BGE 97 I 721 ff. bezüglich eines abzureissenden
oder zu versetzenden Hauses entwickelten Grundsätze allgemeine Geltung
hätten und stellt zwei kumulative Bedingungen dafür auf, dass die
Einleitung des Enteignungsverfahrens trotz Art. 23 VV-NSG verweigert
werden dürfe (S. 500): Verfahrensrechtlich muss jeder Eigentümer kraft
kantonalen Rechts die Möglichkeit haben, im Rahmen der Landumlegung
seine Entschädigungsansprüche gegenüber dem als Mitglied des Unternehmens
und als Enteigner betrachteten Kanton geltend zu machen; materiell ist
erforderlich, dass die mit der Landumlegung betrauten Behörden für die
Schätzung zu Art. 19 EntG analoge Regeln anwenden.

Erwägung 3

    3.- Im vorliegenden Fall geht ein Mitglied des
Landumlegungsunternehmens zweier Gebäude und einer Quelle verlustig; es
handelt sich also seiner Natur nach um einen Enteignungsfall. Nun vermag
die zugerische Gesetzgebung den in BGE 99 Ia 500 bestätigten Anforderungen
für eine Vermeidung des Enteignungsverfahrens in keiner Weise zu genügen,
wie das Bundesgericht schon in BGE 97 I 722 f. E. 2 b festgestellt hatte.

    a) In seinem Entscheid ruft der Regierungsrat zur Stützung seiner
gegenteiligen Auffassung Gesetzesbestimmungen an, die gar nicht
massgeblich sind. Er nennt als erstes § 2 Abs. 2 MelG, wonach die
Gesamtmelioration alle Massnahmen umfasst, die als Bodenverbesserungen im
Sinne des Landwirtschaftsgesetzes in Betracht fallen, einschliesslich die
Zusammenlegung von landwirtschaftlich genutztem Boden, Bau- und Waldgebiet.
Diese offensichtlich für die ordentliche Landumlegung geschaffene
Bestimmung hat indessen nichts mit dem Fall des Eigentümers zu tun,
der im Zusammenhang mit dem Nationalstrassenbau ein Gebäude verliert.

    Der Regierungsrat hebt weiter hervor, nach § 8 Abs. 1 des Reglementes
über die Gesamtmelioration Ennetsee habe die Ausführungskommission
alle Kompetenzen, die gemäss Bodenverbesserungsverordnung dem
Genossenschaftsvorstand zuständen. Er führt aber keine Vorschrift
dieser Verordnung an, die dem genannten Vorstand die Befugnis zum
Entscheid über die Enteignung eines Gebäudes gäbe und die in dieser
Hinsicht materielle Regeln enthielte, die den Grundsätzen von Art. 19
EntG entsprächen. Eine solche Bestimmung fehlt nicht nur, sondern nach §
24 Abs. 2 der Bodenverbesserungsverordnung hat der Genossenschaftsvorstand
bezüglich aller Einsprachen ausdrücklich keine Entscheidungsbefugnis, denn
er hat - wenn die Verständigungsversuche seines Präsidenten gescheitert
sind - die Einsprachen zum Entscheid an die Bodenverbesserungskommission
zu leiten (§ 28).

    b) Der Regierungsrat argumentiert ferner damit, dass es nach § 15
Abs. 1 MelG der Bodenverbesserungskommission zustehe, über die Einsprachen
gegen die Ausführungsprojekte, die "Bewertungen, die Abschätzungen
und die Kostenverteilung" zu befinden. Hierin läge möglicherweise eine
Kompetenznorm für die Enteignungsfälle, obschon die Bestimmung eher die
blossen Abschätzungen des alten und neuen Besitzstandes zu betreffen
scheint. Jedoch enthalten jedenfalls weder das Meliorationsgesetz noch
seine Vollziehungsverordnung eine materielle Bestimmung, die Art. 19
EntG entspräche. Daraus ist zu folgern, dass der kantonale Gesetzgeber
nicht daran gedacht hat, dass ein Enteignungsfall sich im Rahmen der
Landumlegung erledigen liesse. Nach der Rechtsprechung hätte er letzteres
ausdrücklich und klar vorsehen müssen, damit die Anwendung von Art.
23 VV-NSG entfallen könnte.

    c) Dieser Schluss wird bestätigt durch den § 10 Abs. 5 MelG, den der
Beschwerdeführer - in Übereinstimmung mit BGE 97 I 723 - anruft. Nach
dieser Bestimmung, welche auf die vom Regierungsrat im Zusammenhang mit
dem Bau öffentlicher Werke angeordneten Landumlegungen anwendbar ist, kann
der Eigentümer die Einleitung des Enteignungsverfahrens verlangen, wenn das
Landumlegungsverfahren seinen berechtigten Ersatzansprüchen offensichtlich
nicht zu genügen vermag. Zur Ausschaltung dieser Regel im vorliegenden
Fall macht der Regierungsrat geltend, die Neuzuteilung des Landes sei
gleichwertig und habe dem Beschwerdeführer letztlich volle Befriedigung
verschafft. Er gibt sinngemäss jedoch selber zu, dass dies nur für die
Liegenschaft selbst und nicht auch für die Gebäudeentschädigung gelte. Nun
ist es gerade die letztere, welche streitig ist und kraft Art. 23
VV-NSG und § 10 Abs. 5 MelG die Einleitung des Enteignungsverfahrens
rechtfertigt. Wenn sich § 10 Abs. 5 MelG nicht auf einen Fall wie den
vorliegenden anwenden liesse, wäre schwer einzusehen, welchen Sinn die
Bestimmung noch haben könnte.

Erwägung 4

    4.- Es bleibt die Frage, bis zu welchem Stadium des Umlegungsverfahrens
sich der Grundeigentümer noch auf Art. 23 VV-NSG berufen darf. Da indessen
hier der Beschwerdeführer damit nicht ungebührlich lange zugewartet hat,
kann die grundsätzliche Frage offen gelassen werden. Auch wenn er sich
auf ein langes Verfahren vor dem Präsidenten der Ausführungskommission
der Gesamtmelioration Ennetsee eingelassen hat, so war dies doch bloss
ein Verständigungsverfahren (§ 24 Abs. 1 Bodenverbesserungsverordnung),
wo sich allenfalls die zwischen den Parteien hängigen Streitpunkte etwas
vereinfachen liessen. Hingegen hat der Beschwerdeführer, als er sich an
die entscheidende Instanz - die Bodenverbesserungskommission (§ 15 MelG)
- wandte, sogleich die Einleitung des Enteignungsverfahrens verlangt.

Erwägung 5

    5.- Somit ist der Beschwerdeführer berechtigt, die Einleitung des
Enteignungsverfahrens zu verlangen. Wie in BGE 99 Ia 500 (Erw. 4 am
Ende) festgehalten, wird die Eidg. Schätzungskommission allfällige
Vergütungen, die er bereits im Landumlegungsverfahren erhalten haben
könnte, mitberücksichtigen müssen.

    Da das Hauptbegehren des Beschwerdeführers gutzuheissen ist, wird
sein Eventualbegehren gegenstandslos und es ist hierauf nicht einzutreten.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird in ihrem Hauptantrag gutgeheissen, was den
Eventualantrag gegenstandslos werden lässt, und der Entscheid des
Regierungsrats des Kantons Zug vom 24. September 1973 wird aufgehoben. Der
Regierungsrat des Kantons Zug wird angewiesen, die Akten der Eidg.
Schätzungskommission des 9. Kreises zu übermitteln, die sich mit den
Entschädigungsforderungen zu befassen hat.