Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 IB 226



100 Ib 226

36. Urteil vom 12. Juli 1974 i.S. Wessely gegen Regierungsrat des Kantons
Zürich Regeste

    Fremdenpolizeirecht; Anspruch auf Erteilung einer Bewilligung gemäss
Art. 100 lit. b Ziff. 3 OG.

    Ziff. 5 des vom Rat der OCDE genehmigten Ratsbeschlusses der OECE
vom 30. Oktober 1953/5. März 1954/27. Januar und 7. Dezember 1956 über
die Regelung der Beschäftigung von Angehörigen der Mitgliedstaaten ist
nicht unmittelbar anwendbar und vermag deshalb nicht einen Anspruch des
Einzelnen im Sinne von Art. 100 lit. b Ziff. 3 OG auf Erneuerung der
Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz zu begründen.

Sachverhalt

                          Sachverhalt:

    A.- Der am 16. Februar 1947 geborene österreichische Staatsangehörige
Manfred Wessely hält sich seit dem 4. Juni 1968 ununterbrochen in der
Schweiz auf. Er arbeitet als Elektromonteur in der Firma Kull & Co. in
Zürich.

    Am 24. Juli 1973 hat die kantonale Fremdenpolizei ein Gesuch Wesselys
um Erneuerung der am 4. Juni 1973 abgelaufenen Aufenthaltsbewilligung
abgewiesen und Wessely zum Verlassen des Kantonsgebietes eine Frist bis
zum 30. September 1973 gesetzt. Der Regierungsrat des Kantons Zürich
hat diese Verfügung - nachdem die Fremdenpolizei es abgelehnt hatte,
sie in Wiedererwägung zu ziehen - am 31. Oktober 1973 bestätigt und die
Fremdenpolizei angewiesen, Wessely eine neue Frist zur Ausreise anzusetzen.
Zur Begründung führt er aus, Wessely habe durch strafgerichtlich geahndete
Vergehen zu schweren Klagen Anlass gegeben; dies würde den Widerruf
seiner Aufenthaltsbewilligung, ja sogar seine Ausweisung rechtfertigen
und begründe deshalb jedenfalls die Nichterneuerung der Bewilligung.

    B.- Mit der vorliegenden Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt
Wessely, den Entscheid des Regierungsrates aufzuheben und die
Aufenthaltsbewilligung zu erneuern, allenfalls die Behörden des Kantons
Zürich anzuweisen, entsprechend zu verfügen. In der Beschwerdebegründung
wird geltend gemacht, der Regierungsrat habe zu Unrecht angenommen, die
Erneuerung der Bewilligung liege in seinem Ermessen. Im vorliegenden Falle
komme ein Ratsbeschluss der Europäischen Organisation für wirtschaftliche
Zusammenarbeit (OECE) über die Beschäftigung von Angehörigen der
Mitgliedstaaten zur Anwendung, der dem Beschwerdeführer grundsätzlich
einen Anspruch auf Erneuerung der Bewilligung einräume.

    C.- Der Regierungsrat des Kantons Zürich und das Eidgenössische Justiz-
und Polizeidepartement beantragen Abweisung der Beschwerde.

    D.- Der Präsident der verwaltungsrechtlichen Kammer hat der Beschwerde
am 10. Januar 1974 auf Begehren des Beschwerdeführers aufschiebende
Wirkung erteilt.

    E.- Auf Aufforderung des Bundesgerichts haben das Eidg.  Politische
Departement und das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement zur Bedeutung
des vom Beschwerdeführer angerufenen Ratsbeschlusses der OECE Stellung
genommen.

Auszug aus den Erwägungen:

                           Erwägungen:

Erwägung 1

    1.- Der Beschwerdeführer beantragt die Erneuerung seiner
Aufenthaltsbewilligung, sei es unmittelbar durch das Bundesgericht, sei
es auf Weisung des Bundesgerichts durch die kantonalen Behörden. Gegen
die Verweigerung einer fremdenpolizeilichen Bewilligung ist nach Art. 100
lit. b Ziff. 3 OG die Verwaltungsgerichtsbeschwerde aber nur zulässig,
wenn das Bundesrecht einen Anspruch auf die Bewilligung einräumt. Der
Entscheid über die Bewilligung des Aufenthalts von Ausländern in der
Schweiz liegt gemäss Art. 4 ANAG im Ermessen der zuständigen Behörde. Der
Ausländer besitzt also grundsätzlich keinen Anspruch auf Erneuerung seiner
Aufenthaltsbewilligung (vgl. BGE 99 I/b 198). Einzelne Staatsverträge
begründen jedoch Ausnahmen von diesem Grundsatze (BGE 97 I 533 ff., 98 I/b
387 ff.). Eine solche Ausnahme, mithin ein Anspruch auf Erneuerung der
Aufenthaltsbewilligung, ergibt sich nach Ansicht des Beschwerdeführers
auch aus Ziff. 5 des Ratsbeschlusses der Europäischen Organisation für
wirtschaftliche Zusammenarbeit (OECE) vom 30. Oktober 1955/5. März
1954/27. Januar und 7. Dezember 1956 über die Regelung der Beschäftigung
von Angehörigen der Mitgliedstaaten. Die Zulässigkeit der vorliegenden
Beschwerde hängt somit vom Entscheid über die materiellrechtliche Frage
nach der Tragweite der angerufenen Bestimmung ab.

Erwägung 2

    2.- Nach Art. 13 lit. a und 15 lit. a des Abkommens über die
europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit vom 16. April 1948 konnte
der Rat der OECE "Beschlüsse fassen, welche die Mitglieder ausführen
werden". Art. 17 lit. a) i) des Verfahrensreglements der OECE vom
September 1956 bestimmte, die Mitglieder der OECE führten diese für
sie verbindlichen Beschlüsse aus, nachdem sie die Bedingungen erfüllt
hätten, die ihr nationales Verfassungsrecht hiefür aufstelle. Der Rat der
Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OCDE)
hat den Ratsbeschluss der OECE, auf den sich der Beschwerdeführer beruft,
am 30. September 1961 genehmigt und damit für die von der OECE zur OCDE
umgestaltete Organisation wirksam erhalten (Art. 15 des Übereinkommens
über die Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
vom 14. Dezember 1960). Beschlüsse des OCDE-Rates binden nach Art. 15
lit. a des OCDE-Übereinkommens alle Mitglieder der Organisation, soweit
nichts anderes vorgesehen ist. Ein Beschluss ist aber "für ein Mitglied
solange nicht bindend, als es seine verfassungsrechtlichen Erfordernisse
nicht erfüllt hat" (Art. 6 Abs. 3 des Übereinkommens).

    Die vom Beschwerdeführer angerufene Ziff. 5 des fraglichen
Ratsbeschlusses lautet:

    "Die Behörden eines jeden Mitgliedstaates gewähren den Arbeitnehmern,
die seit mindestens fünf Jahren in ihrem Lande ordnungsgemäss
beschäftigt sind, die Arbeitserlaubnis, die erforderlich ist, um ihnen
die Fortsetzung ihrer Arbeitnehmertätigkeit zu ermöglichen, und zwar
entweder im gleichen Beruf oder, soweit in diesem Beruf eine besonders
ernsthafte Arbeitslosigkeit herrscht, für einen andern Beruf. Von dieser
Verpflichtung kann nur aus zwingenden Gründen des staatlichen Interesses
Abstand genommen werden."

    Einen Anspruch im Sinne von Art. 100 lit. b Ziff. 3 OG vermag
diese Bestimmung nur zu begründen, wenn sie sowohl völkerrechtlich
verbindlich und landesrechtlich gültig als auch unmittelbar anwendbar
ist. Ob sie völkerrechtlich verbindlich und landesrechtlich gültig ist,
kann im vorliegenden Falle offen bleiben, wenn sich ergibt, dass sie
nicht unmittelbar anwendbar ist. Offen bleiben kann dann insbesondere,
ob der fragliche Ratsbeschluss richtigerweise hätte der Bundesversammlung
zur Genehmigung unterbreitet werden müssen und ob das Bundesgericht dies
prüfen darf und den Bestimmungen des Beschlusses gegebenenfalls schon
aus diesem Grunde die Anwendung versagen könnte.

Erwägung 3

    3.- Erste Voraussetzung der unmittelbaren Anwendbarkeit der
Bestimmung eines Staatsvertrages ist, dass die in Frage stehende Norm
inhaltlich hinreichend bestimmt und klar ist, um als Grundlage eines
Entscheides im Einzelfalle dienen zu können (BGE 98 I/b 387). Auch die
vom Beschwerdeführer angerufene Bestimmung eines OECE/OCDE-Ratsbeschlusses
muss diese Voraussetzung erfüllen, soll sie unmittelbar angewendet werden
können (vgl. BLAISE KNAPP, Perspectives européennes dans la jurisprudence
du Tribunal Fédéral Suisse, Cahiers de droit européen 1974, S. 193). Die
erforderliche Bestimmtheit geht in der Regel vor allem den sogenannten
Programmartikeln internationaler Vereinbarungen ab (vgl. CHRISTIAN
DOMINICE, La convention européenne des droits de l'homme devant le juge
national, Schweiz. Jahrbuch für Internationales Recht 1972, S. 9 ff., 30
Ziff. 17; ARNOLD KOLLER, Die unmittelbare Anwendbarkeit völkerrechtlicher
Verträge, Schweiz. Beiträge zum Europarecht Bd. 8 S. 71/72). Sie fehlt auch
Bestimmungen, die eine Materie nur in den Umrissen regeln, insbesondere dem
Staate einen beträchtlichen Ermessensspielraum offen lassen. Gerade dies
ist der Fall der vom Beschwerdeführer angerufenen Ziff. 5 des zitierten
OECE/OCDE-Ratsbeschlusses:

    Nach dem zweiten Satz dieser Bestimmung kann "aus zwingenden
Gründen des staatlichen Interesses" von der im ersten Satz der
Bestimmung formulierten Verpflichtung Abstand genommen werden. Ob dies
schon für sich allein die Norm so unbestimmt macht, dass sie nicht
mehr als Grundlage eines Entscheides im Einzelfalle taugt, kann hier
dahingestellt bleiben. Immerhin ist nicht zu übersehen, dass z.B. die
dem zweiten Satz von Ziff. 5 entsprechende Ausweichklausel in dem vom
Bundesgericht als unmittelbar anwendbar erkannten Art. 11 des Abkommens
zwischen der Schweiz und Italien über die Auswanderung italienischer
Arbeitskräfte nach der Schweiz vom 10. August 1964 (BGE 98 I/b 467)
wesentlich präziser ist (Ziff. 3). Die Schweiz hat sich nun aber ausserdem
ausdrücklich vorbehalten, sich im Rahmen des zweiten Satzes von Ziff. 5
des Ratsbeschlusses gegebenenfalls auf "den besonderen Charakter ihrer
Lage" zu berufen. Dieser Vorbehalt bezieht sich auf die besonderen
demographischen Verhältnisse in der Schweiz. Er verschafft der Schweiz
einen weiten Spielraum bei der Anwendung der Ausweichklausel von Ziff. 5
des Ratsbeschlusses. Bei quantitativer wie auch qualitativer Gefährdung
ihres demographischen Gleichgewichts kann die Schweiz danach - auch ganz
allgemein - von der im ersten Satz von Ziff. 5 begründeten Verpflichtung
Abstand nehmen. Die genaue Tragweite dieser Verpflichtung für die Schweiz
ergibt sich somit wesentlich aus der Tragweite des schweizerischen
Vorbehaltes. Ohne Präzisierung durch einen Erlass des Bundes ist sie im
Einzelfalle nicht bestimmbar. Ziff. 5 des Ratsbeschlusses ist inhaltlich
nicht hinreichend bestimmt, um Grundlage für einen Entscheid im Einzelfall
bilden zu können. Das Bundesgericht kann sie deshalb nicht unmittelbar
anwenden. Die Bestimmung richtet sich lediglich an die politischen
Behörden. Dies dürfte auch der Grund dafür sein, dass sie nicht amtlich
publiziert worden ist. Ist sie aber nicht unmittelbar anwendbar, so
kann der Beschwerdeführer aus ihr keinen Anspruch im Sinne von Art. 100
lit. b Ziff. 3 OG herleiten. Zu diesem Schlusse sind auch das Eidg.
Politische Departement und das Eidg. Justiz- und Polizeidepartement in
ihren Stellungnahmen gelangt. Auf die vorliegende Beschwerde kann somit
nicht eingetreten werden.

    Die Sache ist dem Bundesrat zu überweisen. Er wird zu entscheiden
haben, ob er im Rahmen von Art. 73 Abs. 1 lit. b VwG dem Rechtsbegehren
des Beschwerdeführers entsprechen kann.