Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 IB 1



100 Ib 1

1. Urteil vom 5. April 1974 i.S. Progressive Organisationen der Schweiz
(POCH) & Konsorten gegen Schweiz. Bundeskanzlei Regeste

    Initiativengesetz.

    -  Zulässigkeit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen einen
Feststellungsentscheid der Schweiz. Bundeskanzlei, dass eine
Volksinitiative nicht zustande gekommen ist (Erw. 1).

    - Rechtliches Gehör: Bei einer Ungültigkeitserklärung hat die
Schweiz. Bundeskanzlei den Initianten Gelegenheit zu geben, sich vorgängig
der Verfügung zu den angeblichen Ungültigkeitsgründen zu äussern (Erw. 2).

    - Inhalt und Zweck von Art. 4 Abs. 2 Initiativengesetz: Diese
Bestimmung setzt nicht voraus, dass sich die Initianten bereits zu Beginn
der Unterschriftensammlung schlüssig werden, ob sie den Initiativtext in
einer oder in mehreren Amtssprachen zur Unterschrift auflegen wollen; sie
bezweckt, dass die unterzeichnenden Bürger erkennen können, welches der
massgebliche Text der Initiative ist, und soll den Eidg. Räten Klarheit
und Sicherheit darüber geben, welche Fassung einer in mehreren Sprachen
unterbreiteten Initiative die massgebende ist (Erw. 3).

Sachverhalt

    A. - Ende 1971 legten die Progressiven Organisationen der Schweiz
(POCH) Unterschriftenbogen in deutscher Sprache für eine Volksinitiative
zur Einführung der 40-Stunden-Woche auf. Die Unterschriftenbogen tragen
folgenden Text:

    "Einführung der 40-Stunden-Woche

    Die unterzeichneten stimmberechtigten Schweizer Bürger und Bürgerinnen
verlangen auf dem Wege der Volks-Initiative, dass die Bundesverfassung
durch einen Art. 34 sexties ergänzt wird:

    Die ordentliche Arbeitszeit darf 40 Stunden in der Woche nicht
überschreiten.

    Übergangsbestimmung: Die neue Vorschrift tritt ein Jahr nach ihrer
Annahme in der Volksabstimmung in Kraft. Die Gesetzesbestimmungen, welche
die Höchstdauer der wöchentlichen Arbeitszeit betreffen, gelten auf diesen
Zeitpunkt hin als entsprechend geändert."

    Auch wird darauf erklärt, dass Georg Degen und Konsorten
mit Zweidrittelsmehrheit berechtigt seien, das Volksbegehren
zurückzuziehen. Die Unterschriftenbogen enthalten keinen Hinweis darauf,
dass der deutsche Text der Volksinitiative, der als einziger auf den Bogen
steht, der massgebliche sei. Solche Unterschriftenbogen sind von 11 613
Bürgern unterzeichnet worden. Nachträglich erstellten die Initianten
Unterschriftenbogen, auf denen der Initiativtext in französischer
bzw. italienischer Sprache aufgeführt ist. Dabei wurde auf jedem Bogen
festgehalten, dass der deutsche Text der massgebende sei, und dieser
deutsche Text jeweils auch aufgeführt. 11 645 Bürger und Bürgerinnen
unterzeichneten solche Unterschriftenbogen. Beim Nachdruck wurde dann auch
bei den Unterschriftenbogen mit deutschem Text der Hinweis aufgenommen,
dass der deutsche Text der Initiative der massgebliche sei. 30 969
Unterschriften wurden auf derart ergänzte Formulare mit deutschem Text
gesetzt.

    B. - Mit Verfügung vom 19. Dezember 1973 stellte die Bundeskanzlei
fest, dass die Volksinitiative zur Einführung der 40-Stunden-Woche nicht
zustande gekommen sei, da sie nicht die nach Art. 121 Abs. 2 BV verlangten
50 000 gültigen Unterschriften aufweise. Von insgesamt 55 061 eingereichten
Unterschriften seien lediglich 42 614 gültig.

    In der Begründung dieser Verfügung führt die Bundeskanzlei aus, in
einer grösseren Auflage der deutschsprachigen Unterschriftenlisten mit
insgesamt 11 613 Unterschriften fehle die Bezeichnung des massgebenden
Textes, was nach Art. 4 Abs. 2 BG über das Verfahren bei Volksbegehren
auf Revision der Bundesverfassung vom 23. März 1962 (Initiativengesetz)
Gültigkeitsvoraussetzung sei bei einem Partialrevisionsbegehren, das in
Form eines ausgearbeiteten Entwurfs und in mehr als einer Amtssprache
zur Unterzeichnung aufgelegt wird.

    C. - Gegen diesen Entscheid richtet sich die vorliegende
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Die Beschwerdeführer verlangen die Aufhebung
der Verfügung der Bundeskanzlei und die Feststellung, dass die in der Form
eines ausgearbeiteten Entwurfs gestellte Volksinitiative zur Einführung
der 40-Stunden-Woche zustande gekommen sei. Es wird geltend gemacht,
der Entscheid der Bundeskanzlei sei durch übertriebene Formstrenge
gekennzeichnet, was durch Art. 4 BV verpönt werde. Die Ungültigerklärung
der Initiative bedeute einen Eingriff in ein elementares Volksrecht
durch einen ausschliesslich formal, jedoch materiell nicht dem Sinn der
gesetzlichen Bestimmungen entsprechend begründeten Verwaltungsakt.

    Die Bundeskanzlei schliesst auf Abweisung der Beschwerde.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- Die Beschwerde richtet sich gegen den Entscheid der Bundeskanzlei,
mit dem festgestellt wird, dass die Volksinitiative zur Einführung der
40-Stunden-Woche nicht zustande gekommen ist.

    Das Bundesgericht beurteilt nach Art. 97 Abs. 1 OG letztinstanzlich
Verwaltungsgerichtsbeschwerden gegen Verfügungen im Sinne von Art. 5
VwG; als solche gelten Anordnungen der Behörden im Einzelfall,
die sich auf öffentliches Recht des Bundes stützen. Der angefochtene
Entscheid zählt zu derartigen Verfügungen. Verfügungen nach Art. 22 des
Geschäftsverkehrsgesetzes vom 23. März 1962 betreffend Volksbegehren wurden
allerdings nach dem alten OG vom Bundesrat behandelt bzw. erlassen. Seit
der Revision des OG im Jahre 1968 ist für den Erlass derartiger Verfügungen
nunmehr anstelle des Bundesrates die Bundeskanzlei als Mittelinstanz
zuständig (Art. 23 Abs. 2 BG vom 26. März 1914 über die Organisation der
Bundesverwaltung, in der Fassung vom 20. Dezember 1968; vgl. auch BGE 98 Ib
291). Aus dem Text des revidierten OG und aus seiner Entstehungsgeschichte
kann geschlossen werden, dass diesbezügliche Entscheide der Bundeskanzlei
heute grundsätzlich der Verwaltungsgerichtsbeschwerde unterliegen
(Art. 98 lit. b OG), fallen sie doch unter keine der in Art. 99 bis
102 OG aufgezählten Ausnahmen. Wohl hatte der Bundesrat in dem der
Bundesversammlung mit Botschaft vom 24. September 1965 unterbreiteten
Entwurf für ein BG über die Änderung des OG (BBl 1965 II 1265)
vorgeschlagen, die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen "Verfügungen auf
Grund von Bestimmungen über die Eidgenössischen Wahlen, Volksbegehren und
Abstimmungen" auszuschliessen (Art. 99 lit. d des Entwurfs). Die Kommission
des Nationalrates hat diese Ausnahmebestimmung jedoch gestrichen (Protokoll
der 2. Sitzung vom 17./18. Januar 1966, S. 37), und dabei ist es geblieben.

    Die Beschwerdeführer haben am Zustandekommen der Initiative und
damit an der Aufhebung des angefochtenen Entscheids ein schutzwürdiges
Interesse. Sie sind daher - neben den unterzeichneten Stimmbürgern -
zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde legitimiert (Art. 103 lit. a OG). Die
Beschwerde ist rechtzeitig (Art. 106 OG) und den formellen Anforderungen
des Gesetzes entsprechend (Art. 108 OG) eingereicht worden. Es ist somit
darauf einzutreten.

Erwägung 2

    2.- Die Beschwerdeführer rügen, die Bundeskanzlei habe im Sinne der
Ungültigkeit der Initiative entschieden, ohne dass sie ihnen vorher
Gelegenheit gegeben hätte, zu erklären, weshalb die erste Auflage
der einzig in deutscher Sprache abgefassten Unterschriftenbogen
keinen Hinweis auf den massgeblichen Text enthielt. Darin liege eine
Verletzung des rechtlichen Gehörs. Die Bundeskanzlei wendet dagegen ein,
die Prüfung der Gültigkeit der Volksinitiative sei ein nicht streitiges
Verwaltungsverfahren. Ein vorgängiges Anhören der Parteien sei bei diesen
Verfahren nicht notwendig. Nach der Botschaft zum VwG (BBl 1965 I 1368)
gehe bei derartigen Begehren die Anhörung der Parteien der Verfügung
automatisch voraus.

    Der Auffassung der Bundeskanzlei ist nicht beizupflichten. Nach
Art. 30 Abs. 1 VwG, der auf das Verfahren vor der Bundeskanzlei
Anwendung findet (Art. 1 Abs. 2 lit. b in Verbindung mit Art. 3 VwG),
hört die Behörde die Parteien an, bevor sie verfügt. Die Ausnahmefälle,
in denen sie davon absehen kann, sind in Art. 30 Abs. 2 lit. a bis e VwG
erschöpfend aufgezählt. Nach lit. c kann auf eine vorgängige Anhörung
verzichtet werden, wenn die Behörde den Begehren der Parteien voll
entspricht. Das wäre vorliegend der Fall gewesen, wenn die Bundeskanzlei
die Volksinitiative für gültig erklärt hätte. Der Umkehrschluss aus
diesem Ausnahmegrund erhellt, dass bei einer Ungültigkeitserklärung den
Initianten Gelegenheit zu geben ist, sich vorgängig der Verfügung zu den
angeblichen Ungültigkeitsgründen zu äussern.

    Daran vermag auch die Tatsache nichts zu ändern, dass die Verfügung
der Bundeskanzlei mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde angefochten werden
kann. Die Möglichkeit, eine Verfügung auf dem Rechtsmittelweg anzufechten,
schliesst - abgesehen von der hier nicht zutreffenden Ausnahme des Art. 30
Abs. 2 lit. e VwG - die Pflicht der Behörde zur vorgängigen Anhörung
der Parteien nicht aus; diese Pflicht entfällt nur, wenn die Verfügung
durch Einsprache anfechtbar ist, d.h. die selbe Instanz nochmals in der
gleichen Sache zu entscheiden hat (Art. 30 Abs. 2 lit. b VwG).

    Dieser Schluss zwingt jedoch nicht zur Rückweisung der Sache an die
Bundeskanzlei zwecks Gewährung des rechtlichen Gehörs. Nachdem in der
Sache eine reine Rechtsfrage zu entscheiden ist, hinsichtlich der dem
Bundesgericht die freie Prüfung zusteht, kann der Mangel der Verletzung des
rechtlichen Gehörs im vorliegenden Verfahren, in dem die Beschwerdeführer
voll zum Wort gekommen sind, geheilt werden. Dies rechtfertigt sich
überdies auch aus prozessökonomischen Gründen. Die Bundeskanzlei hat
in ihrer Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde zum Ausdruck
gebracht, dass sie nach wie vor gleich entscheiden würde. Es hätte somit
wenig Sinn, die Vorinstanz zu verpflichten, aufgrund der Vorbringen der
Beschwerdeführer ihre Auffassung - unter Gewährung des rechtlichen Gehörs -
zu überprüfen.

Erwägung 3

    3.- a) Art. 4 Abs. 2 Initiativengesetz lautet wie folgt:

    "Wird ein Partialrevisionsbegehren in der Form eines ausgearbeiteten
Entwurfes in mehr als einer Amtssprache zur Unterzeichnung aufgelegt,
so muss jeder Unterschriftenbogen, um gültig zu sein, überdies den
massgebenden Text bezeichnen und wiedergeben."

    Damit hat der Gesetzgeber zwei Fälle ins Auge gefasst: Einerseitsjenen,
da ein Volksbegehren in der Form eines ausgearbeiteten Entwurfs in einer
einzigen Amtssprache zur Unterzeichnung aufgelegt wird; anderseits
den Fall, da für ein Partialrevisionsbegehren gleich mehrsprachig
Unterschriften gesammelt werden. Nicht ausdrücklich geregelt ist damit
der Fall, der hier vorliegt: Das Partialrevisionsbegehren wird zuerst
nur in einer einzigen Amtssprache, nämlich deutsch, zur Unterzeichnung
aufgelegt; die Initianten entschliessen sich jedoch nachträglich, mit
Unterschriftenbogen in der zweiten und dritten Amtssprache Unterschriften
zu sammeln und bezeichnen erst in diesem Zeitpunkt den deutschen Text
des Partialrevisionsbegehrens als massgeblich.

    Die Bundeskanzlei hält diesbezüglich dafür, Art. 4 Initiativengesetz
setze voraus, dass sich die Initianten bereits zu Beginn der
Unterschriftensammlung schlüssig werden müssen, ob sie den Initiativtext
in einer oder in mehreren Amtssprachen zur Unterschrift auflegen wollen;
ein nachträgliches Hineintragen einer zunächst einsprachig begonnenen
Unterschriftensammlung in ein anderes Sprachgebiet soll ausgeschlossen
sein. Dieser Auffassung steht entgegen, dass das Initiativengesetz
das Vorgehen, so wie es die Beschwerdeführer eingeschlagen haben, weder
ausdrücklich verbietet noch ausdrücklich regelt. Es muss daher für diesen
Fall eine Lösung gefunden werden, die der Ziel- und Zwecksetzung des
Art. 4 Abs. 2 Initiativengesetz entspricht.

    b) Art. 4 Abs. 2 Initiativengesetz verfolgt zwei Zwecke: Einerseits
sollen die unterzeichnenden Bürger erkennen können, welches der
massgebliche Text eines Partialrevisionsbegehrens ist, wenn dieses
mehrsprachig zur Unterschrift aufgelegt wird; anderseits muss für die Eidg.
Räte Klarheit und Sicherheit darüber bestehen, welcher Text einer in
mehreren Sprachen unterbreiteten Initiative der massgebende sein soll. Es
fragt sich, ob die von der Bundeskanzlei im vorliegenden Fall beanstandeten
Unterschriftenbogen in diesen Punkten dem Gültigkeitserfordernis des
Art. 4 Abs. 2 Initiativengesetz entsprechen.

    Die Unterschriftenlisten, die beanstandet werden, enthalten lediglich
den deutschen Text des Partialrevisionsbegehrens; es wird darauf nicht
erklärt, dass der einzig aufgeführte Text der massgebende sei. Sie wurden
zu Beginn der Unterschriftensammlung in Umlauf gesetzt; indes waren einige
offenbar noch im Umlauf, als die Unterschriftensammlung auf die andern
Sprachgebiete ausgedehnt worden war. Wer diese Unterschriftenbogen
unterzeichnete, wusste aber, dass seine Unterschrift den massgebenden
deutschen Text des Partialrevisionsbegehrens betraf, lag doch für die
Unterzeichner der Initiative auf der Unterschriftenliste gar kein anderer
als der massgebliche Text vor. Anderseits kann für die Eidg. Räte kein
Zweifel darüber bestehen, welchen Text die Initianten als den massgeblichen
gewollt haben; dies deshalb, weil sich die Frage solange nicht stellte,
als die Unterschriftensammlung für das Partialrevisionsbegehren nur in
deutscher Sprache im Gange war und die Initianten, in dem Augenblick, da
sie die Unterschriftensammlung auf weitere Sprachgebiete ausdehnten, die
Initiative somit mehrsprachig wurde, ausdrücklich und unmissverständlich
erklärten, die deutsche Fassung des Partialrevisionsbegehrens habe als
massgebend zu gelten. Die Zwecke des Art. 4 Abs. 2 Initiativengesetz
sind demnach im vorliegenden Fall verwirklicht worden.

    c) Soweit daher die Beschwerdeführer die Aufhebung der Verfügung
der Bundeskanzlei verlangen, ist ihrem Begehren stattzugeben.
Dagegen kann dem Begehren um Feststellung, dass die Volksinitiative zur
Einführung der 40-Stunden-Woche zustande gekommen sei, nicht entsprochen
werden. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist einzig die Rechtsfrage,
ob die Bundeskanzlei jene deutschsprachigen Unterschriftenlisten
mit insgesamt 11 613 Unterschriften, auf denen die Bezeichnung des
massgebenden Textes fehlt, zu Recht nach Art. 4 Abs. 2 Initiativengesetz
ungültig erklärt hat oder nicht. Das Bundesgericht stellt fest, dass
diese Unterschriftenbogen das Gültigkeitserfordernis des Art. 4 Abs. 2
Initiativengesetz erfüllen. Ob sie allenfalls andere Mängel aufweisen,
hat es nicht zu prüfen. Die Bundeskanzlei wird daher - nach Prüfung dieser
Frage - in einer neuen Verfügung entscheiden müssen, ob die Initiative
gültig zustande gekommen ist oder nicht.

Entscheid:

               Demnach erkennt das Bundesgerlcht:

    Die Beschwerde wird gutgeheissen, der angefochtene Entscheid
aufgehoben und die Sache zur Neuentscheidung an die Schweiz. Bundeskanzlei
zurückgewiesen.