Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 IA 89



100 Ia 89

14. Urteil vom 27. März 1974 i.S. Gemeinde Bassersdorf gegen Kappeler
und Regierungsrat des Kantons Zürich. Regeste

    Art. 4 BV; Gemeindeautonomie; Art. 48 KV Zürich.

    Gemeindereglemente sind als ungebührliche Verletzung der Rücksichten
der Billigkeit aufzuheben, wenn die getroffene Ordnung Art. 4 BV und
den daraus abgeleiteten Prinzipien nicht entspricht. Netzausbau eines
kommunalen Elektrizitätswerkes: Eine sachlich nicht begründete Beschränkung
der Beitragspflicht der Benützer auf grosse Bauvorhaben verstösst gegen
Art. 4 BV (Erw. 4 und 6).

Sachverhalt

    A.- Am 29. Januar 1971 änderte die Gemeindeversammlung Bassersdorf
das Reglement über die Abgabe von elektrischer Energie durch das kommunale
Elektrizitätswerk. Dabei wurde in Art. 5 Ziff. 1 Abs. 2 folgende Vorschrift
über den Netzausbau aufgenommen:

    "Verlangen grosse Bauvorhaben eine umfassende Erweiterung des
Leitungsnetzes (Leitungen und Transformerstationen), so wird die Erstellung
solcher Verteilanlagen von einer angemessenen Kostenbeteiligung durch
die Bauherrschaft abhängig gemacht."

    Gemäss Art. 5 Ziff. 5 des Reglementes werden in Fällen, wo das Werk
keine Baubeiträge verlangt, die von der Gemeindeversammlung festgesetzten
Anschlussgebühren erhoben. Die in Ziff. 1 von Art. 5 vorgesehenen
Baubeiträge ersetzen also die Anschlussgebühren.

    B.- Gegen den Beschluss der Gemeindeversammlung reichte der
Stimmberechtigte Walter Kappeler einen Rekurs ein, den der Bezirksrat
Bülach am 24. Juni 1971 abwies.

    Der Regierungsrat des Kantons Zürich hiess die hiegegen eingereichte
Beschwerde Kappelers gut und hob die angefochtenen Vorschriften des
Reglementes (Art. 5 Ziff. 1 Abs. 2-4 und Ziff. 5 Abs. 2) auf. Nach seiner
Meinung erweist sich zwar der Einwand des Rekurrenten, die Erhebung von
Beiträgen an die Erweiterungsbauten des EW Bassersdorf sei ungesetzlich,
als unbegründet. Doch erachtet der Regierungsrat die von der Gemeinde
Bassersdorf getroffene Regelung als sachlich unbefriedigend und unbillig.

    C.- Mit staatsrechtlicher Beschwerde beantragt die politische
Gemeinde Bassersdorf die Aufhebung des regierungsrätlichen Entscheides
mit der Begründung, er verletze die Gemeindeautonomie und verstosse gegen
Art. 4 BV.

    Der Regierungsrat und Walter Kappeler beantragen die Abweisung der
Beschwerde. Die einzelnen von den Parteien vorgebrachten Argumente ergeben
sich, soweit erforderlich, aus den nachfolgenden Erwägungen.

Auszug aus den Erwägungen:

              Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

Erwägung 1

    1.- a) Die Beschwerdeführerin macht geltend, sie sei durch den
angefochtenen Entscheid in ihrer Gemeindeautonomie verletzt. Die Gemeinde
ist nach konstanter Praxis zur Erhebung dieser Rüge legitimiert und es
ist insoweit auf die staatsrechtliche Beschwerde einzutreten (BGE 98 Ia
431, 95 I 36). Ob der Gemeinde im betroffenen Bereich wirklich Autonomie
zukommt, ist nicht eine Frage des Eintretens, sondern eine solche der
materiellen Prüfung der Beschwerde (BGE 99 Ia 74, 98 Ia 431, 94 I 544).

    b) Zur selbständigen Rüge einer Verletzung von Art. 4 BV ist eine
Gemeinde nicht legitimiert; sie kann sich jedoch im Zusammenhang mit
der Beschwerdeführung wegen Verletzung der Gemeindeautonomie auch auf
Art. 4 BV berufen (BGE 97 I 511, 94 I 455). Die Beschwerdeführerin macht
geltend, die von ihr getroffene Regelung der Beitragspflicht verstosse
nicht gegen Art. 4 BV; hingegen habe der Regierungsrat willkürlich
entschieden, indem er von aktenwidrigen Annahmen ausgegangen sei und die
effektive Berechnungsart der Baubeiträge einfach übergangen habe. Diese
Argumentation bezieht sich mittelbar auf die Rüge einer Verletzung der
Gemeindeautonomie und hat keine selbständige Bedeutung. In diesem Sinne
kann darauf eingetreten werden.

    c) Das zürcherische Gesetz über das Gemeindewesen vom 6.  Juni 1926
(GG) bestimmt in § 155 Abs. 2, dass ein Entscheid des Bezirksrates, der
einen Beschluss der Gemeindeversammlung aufhebt - von bestimmten Ausnahmen
abgesehen - stets der Gemeindeversammlung vorzulegen ist zur Entscheidung,
ob ein Rechtsmittel ergriffen werden soll.

    Im vorliegenden Fall wurde der Beschluss der Gemeindeversammlung vom
Bezirksrat bestätigt, aber vom Regierungsrat aufgehoben. § 155 Abs. 2 GG
bezieht sich nach seinem Wortlaut nicht auf diesen Fall. Immerhin liegt die
Folgerung nahe, dass die für die Anfechtung eines Bezirksratsbeschlusses
notwendige Zustimmung der Gemeindeversammlung auch für die Einlegung eines
Rechtsmittels gegen einen entsprechenden Entscheid des Regierungsrates
erforderlich sei. Dass der Gemeinderat die staatsrechtliche Beschwerde ohne
Beschluss der Gemeindeversammlung eingereicht hat, ist unbestritten. Zwar
wurde am 11. Juni 1971 von der Gemeindeversammlung - im Hinblick auf die
Eingaben des Beschwerdegegners - ein Kredit von Fr. 30 000.-- für die
Führung von Verwaltungsrekursen bewilligt. Doch stellt diese allgemeine
Kreditbewilligung keine dem § 155 Abs. 2 entsprechende Entscheidung dar.

    Der Regierungsrat hat in seiner Vernehmlassung keine formellen
Einwände gegen die Zulässigkeit der Beschwerde erhoben und insbesondere
nicht geltend gemacht, es fehle ein Beschluss der Gemeindeversammlung. Er
legt offenbar dem § 155 Abs. 2 GG keine über den Wortlaut hinausgehende
Bedeutung bei. Es scheint auch keine kantonale Praxis zu bestehen,
wonach diese Vorschrift analog für die Anfechtung von Beschlüssen des
Regierungsrates gelten soll. Für das Bundesgericht besteht daher kein
Anlass, den Anwendungsbereich dieser speziellen Verfahrensvorschrift
durch Analogie zum Nachteil der beschwerdeführenden Gemeinde auszudehnen.

    Musste § 155 Abs. 2 GG bei der Einreichung der staatsrechtlichen
Beschwerde nicht beachtet werden, so bestehen keine Zweifel an der Befugnis
des Gemeinderates zur Vertretung der Gemeinde in diesem Verfahren. §
64 GG gibt der Gemeindevorsteherschaft eine subsidiäre Zuständigkeit zur
Besorgung der Gemeindeangelegenheiten, soweit sie nicht andern Behörden
zugewiesen sind. Aus der in der Gemeindeordnung von Bassersdorf dem
Gemeinderat eingeräumten Kompetenz zur Erteilung einer Prozessvollmacht
bis zu einem Streitwert von Fr. 50 000.-- darf gefolgert werden, dass
der Gemeinderat auch ein staatsrechtliches Verfahren ohne bestimmten
Streitwert und ohne erhebliches Kostenrisiko selbständig einleiten kann.

Erwägung 2

    2.- Die Gemeinden sind in jenen Bereichen autonom, in denen ihnen das
kantonale Recht eine verhältnismässig erhebliche Entscheidungsfreiheit
belässt; dies gilt sowohl inbezug auf ihre Rechtsetzungsbefugnis als auch
hinsichtlich der Rechtsanwendung im Einzelfall (BGE 99 Ia 74 E. 2).

    Der Betrieb eines Elektrizitätswerkes (Verteilwerkes) gehört
unbestrittenermassen zum autonomen Wirkungskreis zürcherischer
Gemeinden. Die Aktivität der Gemeinde auf diesem Gebiet steht unter dem
Schutz von Art. 48 KV, der folgenden Wortlaut hat:

    "Die Gemeinden sind befugt, ihre Angelegenheiten
innerhalb der Schranken der Verfassung und Gesetze selbständig zu
ordnen. Gemeindebeschlüsse können in sachlicher Beziehung nur angefochten
werden, wenn sie offenbar über die Zwecke der Gemeinde hinausgehen
und zugleich eine erhebliche Belastung der Steuerpflichtigen zur Folge
haben, oder wenn sie Rücksichten der Billigkeit in ungebührlicher Weise
verletzen."

Erwägung 3

    3.- Der Regierungsrat hat im angefochtenen Entscheid bestätigt, dass
zürcherische Gemeinden beim Betrieb eigenwirtschaftlicher produktiver
Unternehmen die Möglichkeit haben, Beiträge zur Vorteilsausgleichung -
etwa an die Kosten der Erweiterung des Leitungsnetzes - zu erheben; das
kantonale Recht steht der kommunalen Statuierung solcher Beitragspflichten
nicht entgegen. Die grundsätzliche Zulässigkeit der Erhebung von
Baubeiträgen ist im vorliegenden Verfahren nicht mehr streitig.

    Der Regierungsrat erklärte jedoch, die von der Beschwerdeführerin
getroffene Regelung der Beitragspflicht sei inhaltlich unbefriedigend
und verstosse gegen Rücksichten der Billigkeit. Die teilweise Aufhebung
der Vorschriften des EW-Reglementes erfolgte also gestützt auf die im
2. Satz von Art. 48 KV eingeräumte Befugnis, Gemeindebeschlüsse aufzuheben,
"wenn sie Rücksichten der Billigkeit in ungebührlicher Weise verletzen".

    Da es sich dabei um eine Verfassungsbestimmung handelt, ist ihre
Auslegung frei zu überprüfen (BGE 98 Ia 434 E. 4).

Erwägung 4

    4.- Der Regierungsrat beansprucht im angefochtenen Entscheid
die Kompetenz, kommunale Reglemente über die Beziehungen zwischen
Versorgungsbetrieben von Gemeinden und ihren Benützern auf ihre Haltbarkeit
vor Art. 4 BV zu prüfen. Die Zulassungs- und Benützungsbedingungen müssten
unter gleichen tatsächlichen Verhältnissen für alle Bürger gleich sein
(BGE 92 I 510); nur erhebliche tatsächliche Unterschiede vermöchten
eine rechtliche Differenzierung zu begründen; Vorzugslasten seien
nach dem wirtschaftlichen Sondervorteil zu bemessen, der dem einzelnen
Beitragspflichtigen erwachse. - Die so verstandene kantonale Überprüfung
des autonomen Gemeinderechts unter dem Aspekt von Art. 4 BV verstösst
nicht gegen Art. 48 KV. Es erscheint als richtig, Gemeindereglemente
auf jeden Fall dann als ungebührliche Verletzung der Rücksichten der
Billigkeit aufzuheben, wenn die getroffene Ordnung Art. 4 BV und den
daraus abgeleiteten Prinzipien nicht entspricht.

    a) Der Regierungsrat beanstandet an der durch die Gemeinde Bassersdorf
beschlossenen Regelung, dass sie die Beitragspflicht von Voraussetzungen
abhängig mache, welche als Kriterien zur Bestimmung des auszugleichenden
Sondervorteils ungeeignet seien:

    aa)  Grosse Bauvorhaben könnten zwar grosse Aufwendungen seitens
des Elektrizitätswerks erfordern, doch ständen in solchen Fällen den
Ausgaben des Werkes in der Regel entsprechend hohe Gebühreneinnahmen
gegenüber. Grosse einheitliche Überbauungen gestatteten oft eine rationelle
Anlage des Leitungsnetzes. Aus der Grösse des Bauvorhabens könne nicht auf
einen auszugleichenden Sondervorteil geschlossen werden. Die Kritik des
Regierungsrates an der gewählten Formulierung ist überzeugend. Entfallen
hohe Gesamtkosten eines Netzausbaus auf eine grosse Zahl von Wohnungen und
sind entsprechende Einnahmen aus Stromlieferungen zu erwarten, so entsteht
weder seitens des Bauherrn ein auszugleichender Sondervorteil, noch seitens
des Werkes eine im Vergleich zu andern Anschlüssen überdurchschnittliche
Belastung durch Baukosten. Ohne dass hier die von verschiedenen Faktoren
abhängigen Kosten des Leitungsbaus für einzelne Arealüberbauungen
verschiedenen Ausmasses konkret erörtert werden müssten, erscheint es
als ganz offensichtlich, dass die Grösse des Bauvorhabens an sich kein
taugliches Kriterium zur Bestimmung der Beitragspflicht bildet. Auch bei
einem grossen Bauvorhaben kann die nach der Zahl der Wohnungen berechnete
Anschlussgebühr einen durchaus angemessenen Beitrag an die vom Werk zu
erstellenden Leitungen bilden. Umgekehrt erfordert unter Umständen ein
kleineres Bauvorhaben Aufwendungen des Elektrizitätswerks, die zum Ausmass
des künftigen Strombezuges in einem Missverhältnis stehen, so dass die vom
Werk zu leistende Erschliessungsarbeit dem Bauherrn einen Sondervorteil
verschafft, dessen Ausgleich durch einen Baubeitrag gerechtfertigt ist.

    bb)  Durch die weitere, kumulative Voraussetzung, dass nur die
Notwendigkeit einer "umfassenden Erweiterung des Leitungsnetzes
(Leitungen und Transformerstationen)" eine Beitragspflicht nach sich
zieht, wird die ganze Regelung nicht entscheidend verbessert. Vor allem
muss aus der gewählten Formulierung der Schluss gezogen werden, dass ein
Bauvorhaben, welches nicht als "gross" zu bezeichnen ist, in keinem Fall
zur Beitragspflicht führt, selbst wenn es eine umfassende, nicht rentable
Erweiterung des Leitungsnetzes auslöst.

    b) In der sachlich nicht begründeten Beschränkung der Beitragspflicht
auf grosse Bauvorhaben sieht der Regierungsrat mit Recht einen
Verstoss gegen Art. 4 BV: Bei grossen Bauvorhaben, die eine umfassende
Erweiterung des Leitungsnetzes verlangen, kann nach dem Wortlaut von
Art. 5 Ziff. 1 Abs. 2 EW-Reglement ein Baubeitrag verlangt werden,
selbst wenn bei wirtschaftlicher Beurteilung der Gesamtanlage weder
ein überdurchschnittlicher Erschliessungsaufwand des Werkes noch
ein Sondervorteil des Bauherrn nachgewiesen ist. Ist andererseits ein
Bauvorhaben nicht als gross zu bezeichnen, so entfällt die Beitragspflicht
von vornherein, obschon durch das Werk eventuell ein ausgleichwürdiger
Sondervorteil geschaffen wird.

    Indem der Regierungsrat diese Regelung als die Rücksichten der
Billigkeit in ungebührender Weise verletzend aufhob, griff er nicht
unbefugt in den autonomen Bereich der Gemeinde ein, sondern hielt sich
an die in Art. 48 KV fixierte Grenze.

Erwägung 6

    6.- a) Auf die Ausführungen der Beschwerdeschrift über die
wirtschaftliche Lage des Elektrizitätswerkes Bassersdorf ist nicht
einzutreten. Denn es geht ja hier nicht um die Feststellung der
Notwendigkeit von Mehreinnahmen durch Baubeiträge, sondern um die
rechtliche Umschreibung einer sachlich begründeten Ordnung der
Beitragspflicht.

    b) In der Beschwerde werden die Belastungen des Werkes durch
die Erweiterung des Leitungsnetzes bei verschiedenen Überbauungen
berechnet. Alle Berechnungen basieren auf dem Vergleich zwischen den
Anlagekosten des Werkes und dem zu erwartenden Gebührenertrag. Als
Belastung, die durch Baubeiträge gedeckt werden sollte, wird dabei die
Differenz zwischen dem "dreifachen Jahresstromertrag" und den Anlagekosten
gewertet.

    Der Regierungsrat verlangt von der Gemeinde lediglich ein
Reglement, das im wesentlichen den diesen Berechnungen zugrunde liegenden
Überlegungen folgt. Die sehr unbestimmten Kriterien "grosses Bauvorhaben"
und "umfassende Erweiterung des Leitungsnetzes" sollen durch eine
Regelung ersetzt werden, welche im Prinzip auf das Verhältnis zwischen
Netzausbaukosten und mutmasslichem Gebührenertrag abstellt. Soziale
Rücksichten - etwa bei abgelegenen Siedlungen - sind durch eine klare
Festlegung sachlicher Kriterien nicht ausgeschlossen. - Die Frage, ob
nicht schon die ungenügende Bestimmtheit der Abgabepflicht nach allgemeinen
rechtsstaatlichen Grundsätzen zur Aufhebung der angefochtenen Vorschriften
hätte führen müssen, kann offen bleiben.

Entscheid:

Demnach erkennt das Bundesgericht:

    Die Beschwerde wird abgewiesen.