Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

BGE 100 IA 272



100 Ia 272

38. Auszug aus dem Urteil vom 22. Februar 1974 i.S. Gemeinde Parpan
gegen Hosang und Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden. Regeste

    Gemeindeautonomie auf dem Gebiete des Gewässerschutzes:

    Die Gesetzgebung des Bundes lässt nicht Raum für eine Autonomie
der Gemeinden bei der Anwendung des in Art. 28 der Allgemeinen
Gewässerschutzverordnung des Bundesrates verwendeten Begriffes des
"engeren Baugebietes".

Sachverhalt

    A.- Die Gemeinde Parpan hat noch kein Baugesetz mit Zonenplan
und kein generelles Kanalisationsprojekt; es sind erst Studien
hierüber im Gange. Indes besteht im Dorfkern bereits ein öffentliches
Kanalisationsnetz.

    Am 7. Juli 1972 ersuchte Georg Hosang den Gemeindevorstand Parpan
um die Bewilligung für den Bau zweier Mehrfamilienhäuser mit insgesamt
15 Wohnungen auf der Parzelle Nr. 126 A im Geissboden. Das Grundstück
ist etwa 800 m vom Dorfkern entfernt. Auf dem Geissboden befinden sich
ausser einem Bauernhaus schon ein Ferienheim und sieben Ferienhäuser für
je eine oder zwei Familien. Für die Ferienhäuser besteht ein gemeinsames
privates Kanalisationsnetz mit einer mechanischen Reinigungsanlage, deren
Abfluss in einen Bach mündet. Bei der Erstellung dieser Anlage wurde ein
Anschluss für höchstens zwei Einfamilienhäuser auf der Parzelle Nr. 126
A einberechnet. In dem von Hosang eingereichten Projekt war der Bau
einer gemeinsamen Kläranlage für die beiden geplanten Mehrfamilienhäuser
vorgesehen. Nach den Angaben der Gemeinde soll das Gebiet des Geissbodens
weder in die Bauzone noch in das generelle Kanalisationsprojekt einbezogen
werden.

    Der Gemeindevorstand lehnte das Baugesuch Hosangs am 25. Oktober 1972
gestützt auf Art. 19 GSchG ab.

    B.- Auf Rekurs des Gesuchstellers hin hob das Verwaltungsgericht des
Kantons Graubünden am 28. Februar 1973 die Verfügung des Gemeindevorstandes
auf und wies diesen an, die nachgesuchte Baubewilligung unter den üblichen
Auflagen zu erteilen. Es nahm an, massgebend sei Art. 28 der Allgemeinen
Gewässerschutzverordnung des Bundesrates (AGSchV). Der Geissboden
sei engeres Baugebiet im Sinne dieser Bestimmung, da dort bereits ein
Kanalisationsnetz vorhanden sei.

    C.- Die Gemeinde Parpan ficht das Urteil des kantonalen
Verwaltungsgerichtes mit staatsrechtlicher Beschwerde wegen Verletzung
der Gemeindeautonomie und des Art. 4 BV an. Es wird geltend gemacht,
der in Art. 28 AGSchV verwendete Ausdruck "engeres Baugebiet" sei ein
unbestimmter Rechtsbegriff und lasse daher der Bündner Gemeinde, die
für die Anwendung der Bestimmung zuständig sei, eine relativ erhebliche
Entscheidungsfreiheit. Die Beschwerdeführerin sei deshalb in diesem
Bereich autonom. Das kantonale Verwaltungsgericht hätte demzufolge nur
einschreiten können, wenn der Gemeindevorstand seine Befugnis überschritten
oder missbraucht oder verfassungsmässige Rechte der Bürger verletzt hätte,
was nicht der Fall sei. Dagegen habe das kantonale Gericht nicht seine
eigene Auslegung des Art. 28 AGSchV durchsetzen dürfen. Zudem sei diese
Auslegung willkürlich.

    Das Bundesgericht weist die Beschwerde ab.

Auszug aus den Erwägungen:

Aus den Erwägungen:

Erwägung 5

    5.- Der Gewässerschutz ist Gegenstand der Gesetzgebung des
Bundes. Daraus folgt jedoch nicht notwendigerweise, dass in diesem Bereich
kein Raum für eine Autonomie der Gemeinden ist.

    Allerdings ist die Gemeindeautonomie eine Institution des kantonalen
Rechts; sie besteht nur, wenn und soweit dieses sie zulässt. Sie wird
nicht auch durch die Bundesverfassung gewährleistet, so dass es dem
eidgenössischen Gesetzgeber an sich nicht verwehrt ist, sie in den von
ihm geregelten Rechtsgebieten auszuschliessen. Wenn er das tun will,
muss er es aber angesichts der grossen staatspolitischen Bedeutung,
welche der Institution in der Schweiz von alters her zukommt, im Gesetz
klar zum Ausdruck bringen. Würde im Gegenteil angenommen, dass allein
schon das Bestehen einer Gesetzgebung des Bundes die Gemeindeautonomie
in dem betreffenden Bereich ausschliesse, so könnte diese Institution
schliesslich unversehens bedeutungslos werden, da der eidgenössische
Gesetzgeber mehr und mehr auf den verschiedensten Gebieten der öffentlichen
Verwaltung eingreift. Zudem liefe diese An. nahme auf eine Rückkehr zu
der Rechtsprechung hinaus, welche eine Autonomie der Gemeinde nur in deren
eigenem und nicht auch in dem ihr übertragenen Wirkungskreis anerkannte,
Rechtsprechung, die längst aufgegeben ist (BGE 93 I 431 E. 3 b; 96 I 152).

    Diese Überlegungen führen zum Schluss, dass der Bund die Kantone dann,
wenn er ihnen den Vollzug seiner Gesetze überlässt und ihnen dabei in
bestimmten Punkten eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit einräumt,
auch ermächtigt, ihrerseits den Gemeinden in diesen Punkten und im Rahmen
dieser Entscheidungsfreiheit eine gewisse Autonomie zuzugestehen, sofern
er nicht das Gegenteil bestimmt.

Erwägung 6

    6.- Der Vollzug des GSchG ist nach Art. 5 Sache der Kantone. Dieses
Gesetz schliesst nicht aus, dass die Kantone Aufgaben, die es ihnen
überlässt, an die Gemeinden delegieren. Eine gewisse Autonomie der
Gemeinden bei der Anwendung des GSchG ist somit denkbar, wenn sie
sich aus dem kantonalen Recht ergibt, aber nur in den Punkten, in
denen das Bundesrecht den Kantonen selber eine relativ erhebliche
Entscheidungsfreiheit einräumt; denn die Kantone können den Gemeinden
nicht mehr Autonomie delegieren, als sie selbst besitzen.

    Die im vorliegenden Fall anwendbaren bundesrechtlichen Vorschriften
- Art. 19 GSchG und Art. 28 AGSchV - untersagen unter bestimmten
Voraussetzungen die Erteilung einer Baubewilligung. Dieses Verbot
ist zwingend und lässt daher keinen Raum für die relativ erhebliche
Entscheidungsfreiheit, die das Kennzeichen der Gemeindeautonomie ist.

    Daran ändert es nichts, dass der in Art. 28 AGSchV verwendete
Begriff des "engeren Baugebietes", der hier just umstritten ist, ein
unbestimmter Rechtsbegriff ist. Die Beschwerdeführerin beruft sich
vergeblich auf BGE 96 I 372-374 und 725/726. Im erstgenannten Urteil
hat das Bundesgericht freilich anerkannt, dass eine Gemeinde bei der
Anwendung eines unbestimmten Rechtsbegriffes autonom sein kann; aber der
Entscheid betrifft den Fall, wo der unbestimmte Begriff dem autonomen
Recht der Gemeinde angehört, und im zweiten der beiden Urteile wie auch
später (BGE 99 I/a 253) hat das Gericht erklärt, dass selbst in diesem
Fall die Gemeinde bei der Rechtsanwendung nur autonom ist, soweit der
Umfang der Überprüfungsbefugnis, die der kantonalen Rekursinstanz nach dem
Gesetz zusteht, dafür Raum lässt. Enthält ein kantonales Gesetz, das in
erster Instanz von der Gemeindebehörde anzuwenden ist, einen unbestimmten
Rechtsbegriff, so genügt dies nicht für die Annahme, dass die Gemeinde
bei der Anwendung dieses Begriffes autonom sei (Urteil vom 28. Juni
1972 i.S. Gemeinde Meisterschwanden, nicht publiziert). Gleich verhält
es sich erst recht dann, wenn ein solcher Begriff in einem Gesetz des
Bundes vorkommt; denn andernfalls wäre die einheitliche Anwendung dieses
Gesetzes in Frage gestellt. Der Einwand, dass in Graubünden die Baupolizei
von jeher Sache der Gemeinden sei, hilft der Beschwerdeführerin nicht;
damit ist gegen die Feststellung, dass der eidgenössische Gesetzgeber in
Art. 19 GSchG und Art. 28 AGSchV zwingende Vorschriften aufgestellt hat,
nicht aufzukommen.

    Damit in einem Falle, wie er hier vorliegt, von Autonomie gesprochen
werden könnte, müsste die Bundesgesetzgebung im Zusammenhang mit dem
unbestimmten Rechtsbegriff eine Bestimmung enthalten, die klar erkennen
liesse, dass der Gesetzgeber den Kantonen, und eventuell den Gemeinden,
eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit habe einräumen wollen. Eine
solche Anordnung findet sich aber hinsichtlich des unbestimmten
Begriffs, der hier in Frage steht, weder in Art. 19 GSchG noch in Art. 28
AGSchV. Anders wäre es etwa dann, wenn in Art. 28 AGSchV von den Zonen,
welche der Kanton oder die Gemeinde als engeres Baugebiet betrachtet,
die Rede wäre.

    Ausserdem ist zu beachten, dass nach Art. 10 GSchG die
Beschwerdeinstanz des Bundes auch die Angemessenheit der in Anwendung
der eidgenössischen Gesetzgebung über den Gewässerschutz ergehenden
Verfügungen überprüfen kann. Diese Ordnung schliesst für den vorliegenden
Fall vollends jede Möglichkeit einer Gemeindeautonomie aus. Wenn auch das
Bundesgericht Verfügungen kantonaler Instanzen insoweit, als die Anwendung
des Bundesrechts von der Würdigung örtlicher Verhältnisse abhängt, nur mit
einer gewissen Zurückhaltung überprüfen wird, so bedeutet das keineswegs,
dass eine Autonomie der Gemeinde besteht.

    Hat demnach die Gemeinde Parpan im vorliegenden Fall nicht auf Grund
einer autonomen Entscheidungsbefugnis gehandelt, so erweist sich ihre
staatsrechtliche Beschwerde ohne weiteres als unbegründet.